Essen.. Aufklärung, Spionage oder gefährlicher Test? Die Mission der türkischen Phantom gibt Rätsel auf. Grenzverletzungen als gezielte Provokation sind indes nicht neu. Die Nato hat den Abschuss desKampfjets durch Syrien als „nicht hinnehmbar“ verurteilt. Dies sei ein „feindseliger Akt“ gewesen. Die Türkei werde auf jede weitere Aggression mit militärischen Mittel reagieren, sagte Ministerpräsident Erdogan.
Einen rätselhaften Schleifenkurs flog der türkische Kampfjet vor der syrischen Küste. An der elektronischen Kennung der F4-Phantom konnte die syrische Luftabwehr erkennen, dass es sich nicht um eine zivile Maschine handelte, erklären Militärexperten.
Nach internationalen Absprachen ist es in einem solchen Fall üblich, dass Abfangjäger aufsteigen und den Eindringling aus dem Luftraum hinaus eskortieren. Warum dies nicht geschah, ist weiter Grund für Spekulationen. Ohne Warnung wurde die zweisitzige F4-Phantom nahe der syrischen Stadt Latakia abgeschossen.
Den Gegner testen
War der Abschuss eine Warnung in Richtung Türkei und Nato? Ein tragisches Versehen einer übernervösen Luftabwehr? Schließlich war tags zuvor ein syrischer Pilot mit einem MiG-21-Jäger nach Jordanien geflohen. Gab es für den Abschuss einen Befehl von oben? Oder wollte die Türkei mit dem waghalsigen Manöver testen, wie schnell die Syrer reagieren?
Das jedenfalls wäre in der Nachkriegsgeschichte nichts Neues, meint Rolf-Dieter Müller, wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. „Im Kalten Krieg hat es immer wieder Grenzverletzungen gegeben, um das gegnerische Radar zu testen und zu sehen, wie schnell die Abfangjäger in der Luft sind“, sagt Müller.
Abdrängen des Eindringlings üblich
Meist blieb es beim Abdrängen des Eindringlings oder man aktivierte das Zielerfassungsradar. „Das bedeutete: Wir haben dich im Visier, hau lieber ab.“ Auch die deutsche Luftwaffe hat zu diesem Zweck Jagdflugzeuge in Bereitschaft. Über dem Baltikum mussten sie in den letzten Jahren mehrfach aufsteigen, um russische Militärjets aus dem neuen Nato-Gebiet hinauszubegleiten.
Nicht immer verliefen diese gefährlichen Spielchen glimpflich. Mit dem langflügeligen Aufklärungsflugzeug Lockheed U2 provozierten die Amerikaner die sowjetischen Militärs seit 1956 bis aufs Blut. Die U2 flog so hoch, dass sowjetische Jäger sie nicht erreichen konnten – bis 1960. Am 1. Mai wurde eine einsitzige U2 in großer Höhe über sowjetischem Gebiet von einer Rakete abgeschossen. Der Pilot Francis Powers rettete sich mit dem Fallschirm, 1962 kam er bei einem Agentenaustausch frei.
269 Menschen starben
Das Klima zwischen den Machtblöcken wurde immer frostiger. 1961: Mauerbau. 1962: Kubakrise. Immer wieder kam es in der Folge zu gefährlichen Begegnungen und Abschüssen. 1983 ereignete sich ein besonders dramatischer Zwischenfall: Als sowjetische Jäger einen koreanischen Jumbo westlich der Insel Sachalin abschossen, starben 269 Menschen. Die Maschine der Korean Airlines war irrtümlich vom Kurs abgewichen.
Krieg aus Versehen
Nur drei Wochen später wäre es beinahe zu einer atomare Katastrophe gekommen, als auf sowjetischen Monitoren vier amerikanische Interkontinentalraketen auftauchten, die sich rasch näherten. Die sowjetischen Offiziere glaubten zunächst an einen amerikanischen Erstschlag – bis sie gottlob feststellten, dass es sich um einen technischer Fehlalarm handelte. „Es gab einige Beinahe-Kriege zur Zeit des Kalten Krieges“, sagt der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette. „Ein Krieg aus Versehen war eine latente Gefahr.“
Der Flug der türkischen Phantom aber stellte keine Bedrohung für syrisches Gebiet dar, stellt Experte Müller fest. Der Abschuss sei daher nicht gerechtfertigt gewesen. Der merkwürdige Kurs der Maschine lässt Wette vermuten, dass sich die Piloten tatsächlich auf einer Aufklärungsmission befanden und dabei den gegnerischen Luftraum verletzten. „Nur haben sie wohl nicht damit gerechnet, dass die sofort schießen.“