Essen. . Ein Urteil, das für Empörung sorgen wird: Das Karlsruher Landgericht entschied, dass das Land Baden-Württemberg vier ehemaligen Sicherungsverwahrten Schmerzensgeld zahlen muss, weil sie rechtswidrig länger als zehn Jahre nach Haftende im Gefängnis bleiben mussten.

Ein Urteil, das für Empörung sorgen wird: Das Karlsruher Landgericht entschied, dass das Land Baden-Württemberg vier ehemaligen Sicherungsverwahrten Schmerzensgeld zahlen muss, weil sie rechtswidrig länger als zehn Jahre nach Haftende im Gefängnis bleiben mussten.

Wie kann es sein, dass ein Staat ehemalige Sexualstraftäter, die rechtsgültig verurteilt und auf der Basis von Gesetzen sicherheitshalber im Gefängnis bleiben mussten, nun mit 500 Euro pro Monat entschädigen muss?

Bis 1998 war die zum Schutz der Bevölkerung gedachte Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre nach der Haft begrenzt. Vor dem Hintergrund einiger spektakulärer Sexualverbrechen hatte der Bundestag auf Initiative des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder („Wegsperren - und zwar für immer!“) diese Begrenzung rückwirkend aufgehoben. 2009 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diese Praxis als rechtswidrig.

Wieso hat ein Urteil eines europäischen Gerichts so weitreichende Folgen für die Bundesrepublik?

Aufgrund des Urteils hatten vier Sicherungsverwahrte vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, das schließlich die europäische Entscheidung im Mai 2011 bestätigte. Die rückwirkende Verlängerung verstoße sowohl gegen das Recht auf Freiheit als auch gegen das so genannte Rückwirkungsverbot. Heißt, ein Strafgesetz kann nicht rückwirkend für den Zeitraum vor seinem Inkrafttreten angewandt werden.

Was sind das für Männer, die gestern ihr Recht erstritten?

Sie sind allesamt Sexualstraftäter, die in Baden-Württemberg sicherungsverwahrt und 2010 aufgrund des Urteils des EGMR freigelassen wurden. Sie sind zwischen 55 und 65 Jahre alt. Einer von ihnen lebt in Freiburg, in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, arbeitet als Ein-Euro-Jobber in einem Archiv. Zwei wohnen, begleitet von massiven Protesten, in einer Mietwohnung in Stendal. Der vierte hält sich in Hamburg auf und wird rund um die Uhr von der Polizei bewacht.

Welche Bedeutung hat das Urteil aus der Sicht der Kläger?

Der Stuttgarter Anwalt Ekkehard Kiesswetter, der drei der Männer vertritt, erklärte gestern nach der Urteilsverkündung gegenüber dieser Zeitung, für ihn und seine Mandanten sei dies „ein guter Tag“. Er wolle ihre Taten keinesfalls bagatellisieren, aber sie hätten ihre Strafe voll abgebüßt und auch die Sicherungsverwahrung. Nun erhielten sie Schadensersatz für das „unrechtmäßige Handeln des Staates“. Kiesswetter vertritt noch einen weiteren Mann, der viele Jahre in der Justizvollzugsanstalt Aachen sicherungsverwahrt wurde. Auch dieser werde nun klagen.

Was bedeutet das Urteil letztendlich für Nordrhein-Westfalen?

Im Justizministerium rechnet man bereits damit, dass viele der 35 so genannten Altfälle aus NRW nun eine ähnliche Entschädigung fordern werden. Erwartet wird allerdings auch, dass das Land Baden-Württemberg gegen das gestrige Urteil in Berufung geht. Bis zu einer endgültigen Entscheidung könnten also weitere eineinhalb bis zwei Jahre vergehen.

Wie wird denn zur Zeit in Deutschland mit der Sicherungsverwahrung umgegangen?

Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 eine gesetzliche Neuregelung bis spätestens zum 31. Mai 2013 eingefordert. Bis dahin gilt für die so genannten Altfälle eine Übergangsregelung, die den Gerichten einen gewissen Spielraum einräumt, damit nicht alle Sicherungsverwahrten sofort freigelassen werden müssen. Künftig sollen sich die Lebensbedingungen der Sicherungsverwahrten deutlich von der in Gefängnissen Inhaftierter unterscheiden.