Bielefeld. . Die Kanzlerin erreicht mit ihrem Zukunftsdialog eine Million Menschen über das Internet und Hunderte geladene Gäste. Die meisten Vorschläge kreisten um die Themen Rente, Arbeit und das eigene Portemonnaie.

Jede Wortmeldung fasst Angela Merkel mit ihren Worten zusammen. Thomas Becker folgert, „sie hört zu“. Darum geht es: Beim „Dialog über Deutschlands Zukunft“. Drei Mal traf sich die Kanzlerin mit Bürgern, in Erfurt, in Heidelberg. Becker erlebte sie in Bielefeld: „Als Person hat sie bei mir gewonnen.“ Ob er sie wählen würde, ist eine andere Frage. Spitzenpolitiker leben in ihrer Welt. Wenn sie wissen wollen, was die Leute denken, fragen sie die Sekretärin, den Fahrer. Sie können Zeitungen und Umfragen lesen, ihre Parteien aushorchen. Merkel sucht den ungefilterten Zugang zum Volk. Zunächst bat sie 2011 über 100 Experten um Anregungen, ab dem 1. Februar die Bürger, erst über das Internet, dann direkt in Gesprächsrunden.

Die Internetseite „www.dialog-ueber-deutschland.de“ läuft bis zum 15. April. Sie wurde über 1,1 Million Mal angeklickt. Es gingen über 9000 Vorschläge ein. Im Schnitt verfolgten 46 000 Leute ihre Treffen im „Livestream“ der Regierung. „Es ist spannend“, sagt die Wissenschaftlerin Heike Bruch von der Universität Sankt Gallen. „Es ist ein Experiment“, versichert eine Merkel-Vertraute. Im Sommer kommt ein Buch heraus. 20 Bürger will Merkel ins Kanzleramt bitten. Von den Wissenschaftlern kommen außerdem noch Empfehlungen. Und dann, was setzt man um?

Zu jedem Treffen lud man 100 Bürger ein – für je 90 Minuten. Sie sitzen auf grauen Bänken, in drei Reihen, ovalförmig. In der Mitte bewegt sich die Kanzlerin wie ein Conferencier und erteilt, von einem Moderator sekundiert, das Wort. „Heute machen wir ein bisschen verkehrte Welt.“ Sonst hören Bürger den Politikern zu.

Wie wollen wir zusmmen leben?

In Erfurt kamen fast 60 Leute zu Wort, in Heidelberg an die 40, in Bielefeld 33. Zwar steht in NRW eine Wahl an, aber keiner ging darauf ein. Nirgendwo gab es Zwischenfälle, keiner wurde ausfällig. Vielleicht haben es Frauen leichter, vielleicht speziell diese Frau: Merkel wirkt uneitel.

Drei Fragen treiben sie um: Wie wollen wir zusammenleben? Wie wollen wir lernen? Wovon wollen wir leben? Jedem Treffen wird eine Diskussion mit Experten vorgeschaltet. Jeder kann dabei seine Argumente testen. Wenn sie Merkel treffen, haben sich die erste Aufregung und auch die Scheu vor dem Mikrofon gelegt.

In Bielefeld hat keiner über die Euro-Krise, das NPD-Verbot oder innere Sicherheit geredet, allesamt Medienthemen, ebenso wenig über das Internet. Keiner forderte mehr Freiheit, sehr wohl aber mehr Staat. Gemeint ist der Bund. Der Föderalismus kam in allen Runden schlecht weg.

Wie wollen wir lernen?

Zum Staat: Er soll „Boni“ für alle Arbeitnehmer vorschreiben, Waffenexporte verbieten, die höheren Abwassergebühren auf dem Land ausgleichen, auf faire Löhne und bessere, flexiblere Arbeitszeiten pochen, mehr Sprachförderung für Migranten anbieten, Arbeitnehmer nach 45 Jahren Beitragsjahren in den Ruhestand gehen lassen, von Krankenschwestern und Pflegern kein Abitur verlangen.

Ein Lehrer schlägt vor, Rente nur an Eltern zu zahlen. Wer zwei oder mehr Kinder in die Welt setzte, kriegt die volle Rente; die Hälfte, wer nur ein Kind hat. Kinderlose haben Pech. „Ihr Vorschlag ist radikal, das wissen Sie, ich kann mich nicht anschließen“, sagt Merkel.

Wovon wollen wir leben?

Keiner wird abgebürstet, auch nicht der Schüler, der die 30-Stunden-Woche vorschlägt, damit jeder tun kann, was ihm Spaß mache. Denn: „Arbeit kann nicht der Sinn des Lebens sein.“ Merkel versteht das, aber gibt zu bedenken, „wir müssen unser Geld verdienen“. Im Vorgespräch sagte ein Experte, „langfristig werden wir den Gürtel enger schnallen müssen“. Paradox: Wachstumskritik ist salonfähig, aber unser Wohlstand beruht auf Wachstum. Immer mehr.

Hinterher nimmt sich Merkel Zeit, für ein Gruppenbild, für kurze Gespräche, ein Händeschütteln. Viele wollen auch nur neben ihr stehen. „Sie ist größer als im Fernsehen“, sagt eine ältere Dame. Ihr Nachbar kennt lauter Bilder mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Nun stellt sich heraus: Merkel kann lächeln. Thomas Becker greift schnell zum Handy. „Ich werde meiner Frau noch ein Foto mitbringen.“