Brüssel. . Seit dieser Woche wird das umstrittene Abkommen ACTA an der entscheidenden Stelle beraten: Das EU-Parlament hat das letzte Wort, ob der internationale Vertrag, mit dem Produktpiraten und Raubkopierern das Handwerk gelegt werden soll, Rechtswirklichkeit werden kann.
Auch auf parlamentarischem Parkett bringt das Thema die Gemüter in Wallung. Bei einer Diskussionsveranstaltung des Außenhandel-Ausschusses droht der Vorsitzende den lärmigen ACTA-Gegnern mit Entfernung aus dem Saal. De Gucht beklagt die Ignoranz der ACTA-Verächter. Eine französische Abgeordnete wirft dem Kommissar und anwesenden Rechtsexperten intellektuelle Tieffliegerei vor – bei ACTA geht es nicht nur auf Europas Straßen hitzig zu.
Die Politik, überrascht vom massiven Protest der Internet-Gemeinde quer durch den Kontinent, tut sich schwer, den Gang des Verfahrens in geregelten Bahnen zu halten. In mehreren Ländern, darunter Deutschland, wurde die Ratifizierung des Vertrages erst einmal gestoppt. De Gucht, sonst ein ausgemachter Sturkopf, sah sich genötigt, das von ihm ausgehandelte Abkommen zur Rechtsprüfung an den Europäischen Gerichtshof zu überweisen.
Verteidiger der Freiheit
Für den Belgier, politisch ein Liberaler, haben die selbsternannten Verteidiger der Netz-Freiheit bis heute nicht begriffen, worum es geht. Das Abkommen ziehe nämlich gar keine neuen Linien zwischen Recht und Unrecht. Es erlaube lediglich, was Recht sei in der EU, auch jenseits ihrer Grenzen durchzusetzen. Dafür hat er eine schöne Formel gefunden, die er seinen Widersachern bei jeder Gelegenheit entgegen schmettert: „Wir greifen nicht eure Freiheiten an, wir verteidigen etwas, wovon ihr lebt!“
Das bezieht sich aufs geistige Eigentum, geschützt durch das Urheberrecht (unzureichend: Die Fälschungsindustrie bringt es global auf einen Umsatz von mindestens 250 Milliarden Dollar im Jahr). Der Rechtsschutz der Geistesfrüchte wird in der EU allerdings gerade überarbeitet, zwecks Anpassung ans digitale Zeitalter. Was dabei herauskomme, wisse man noch gar nicht, sagt der schwedische Chrisdemokrat Christofer Fjellner, und da werde er sich nicht auf De Guchts Wort verlassen. „Was ins Leben der Menschen eingreift, ist nicht das Handelsabkommen, sondern das Recht, das damit durchgesetzt werden soll.“
Netz-Sperre für Raubkopierer
Den britischen Sozialisten David Martin, der federführend die Stellungnahme des Parlaments ausarbeitet, irritiert vor allem die mangelnde Präzision des Abkommens. „Was Sorge macht, sind nicht die Absichten von ACTA, sondern die möglichen unbeabsichtigten Folgen.“ Der Berichterstatter nennt als Beispiel den berüchtigten „französischen Dreier“. Danach wird einem dreimal auffällig gewordenen Raubkopierer der Netz-Zugang verwehrt. Davon stehe in ACTA nichts, sagt Martin. Aber weil der Text so schwammig sei, könnten sich in der Praxis „die Betreiber von Netz-Diensten verpflichtet fühlen, Leuten den Zugang zu sperren.“ Da müsse Klarheit geschaffen werden.
Dubios finden die Kritiker auch das Verfahren, einen Vertrag auszuhandeln, der die potentiellen Sünder – China und andere asiatische Hochburgen der Abkupferei – nicht einbezieht. Den Gang zum Europäischen Gerichtshof halten die Parlamentarier für prinzipiell richtig. Man will sich aber nicht auf De Guchts Auftrag allein verlassen, sondern den Richtern zusätzlich eigene Fragen vorlegen. Auch den Mitgliedstaaten, die ACTA abgesegnet hatten, und der Kommission kündigt Martin Auskunftsbegehren an.
Kein Grund zur Eile
Bis das Gericht in Luxemburg sein Gutachten fertig hat, wird viel Zeit ins Land gehen. Auch danach sei indes eine politische Entscheidung fällig, sagt Internet-Experte Jan Philipp Albrecht von den Grünen. Da stelle sich die Frage, ob man sich den ganzen Aufwand nicht besser spare und ohne den Rat aus Luxemburger abstimme. „Das Resultat wäre ein Nein.“ Der Parlamentskollege Alexander Alvaro (FDP) bezweifelt das. Er sieht „keinen Grund zu besonderen Eile“. Und wenn in einem Jahr das Gericht die Unbedenklichkeit von ACTA bescheinige, könne auch die EU-Volksvertretung ihren Segen erteilen.