Essen. . Wladimir Putin will am Sonntag wiedergewählt werden. Wozu? Seine Mission ist doch längst erfüllt. In ihrer Biografie „Mann ohne Gesicht“ zieht Masha Gessen Bilanz.
Am Sonntag will sich Wladimir Putin erneut zum russischen Präsidenten wählen lassen. Er ist nun seit zwölfeinhalb Jahren an der Macht, und man kann sich fragen, wozu er die weiteren zwölf Jahre, die die geänderte Verfassung ihm nun theoretisch noch gibt, eigentlich braucht: Denn seine Mission ist erfüllt.
Das ist zumindest das Fazit eines Buches, das nun drei Tage vor der Wahl erscheinen wird. Man darf es als Versuch verstehen, zwölf weitere Jahre Putin zu verhindern. „Der Mann ohne Gesicht“ heißt es, es wurde von der Russin Masha Gessen geschrieben und erscheint zwar nicht in Russland, dafür aber in 17 anderen Ländern der Welt gleichzeitig. „Der Mann ohne Gesicht“ zeichnet sorgfältig recherchiert und in der Analyse überzeugend den Werdegang eines lupenreinen Tyrannen nach.
Moskau schweigt – Putin ist erschüttert
Dresden 1990: Montagsdemonstranten drohen die Geheimdienstzentrale des KGB zu stürmen. Auch das Büro Putins ist in Gefahr, der damals Auslandsagent in der DDR ist und seine Kontakte zur RAF nutzt, um sich von den Terroristen Blaupunkt-Radios schenken zu lassen. Nun aber steht die Menge vor seiner Tür und ruft: „Wir sind das Volk!“ Putin fordert Schutz von der Sowjetarmee an. Doch die Soldaten sagen, sie könnten nichts machen: Sie hätten Moskau um Befehle gebeten – aber Moskau schweigt. Putin muss in Dresden erkennen, was für ein armes und schwaches Land seine Sowjetunion geworden ist, und er erzählt davon später in seiner Autobiografie.
Leningrad 1991: Putin ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt, die damals die korrupteste und gewalttätigste Räuberhöhle der Sowjetunion ist. Hier steigt er zum Assistenten des Bürgermeisters auf, obwohl er vom KGB ist. Oder weil er vom KGB ist? In seiner neuen Position dreht Putin krumme Dinger im Import-Export, wie die Bürgerrechts-Ikone Marina Salje später nachweist. So kauft er etwa auf dem Gipfel der Lebensmittelkrise für 90 Millionen Mark Fleisch in Deutschland, das für die Leningrader bestimmt ist. Es wird dann aber in Moskau eingelagert, wo es drei Monate später der KGB unters Volk bringen soll – nach dem Putsch gegen Gorbatschow.
Als „Mann ohne Gesicht“ ins Amt gehievt
Moskau 1999: Im Kreml unter Boris Jelzin dreht sich das Ministerpräsidenten-Karussell schneller und schneller. Putin, inzwischen Geheimdienstchef, ergattert das Amt. Weil er als blasser Bürokrat gilt, als „Mann ohne Gesicht“, wie Gessen es nennt. Dann sprengen Unbekannte mehrere Wohnblöcke in die Luft, 288 Menschen sterben. Putin verspricht, die Terroristen „auf der Toilette kalt zu machen“, aber nach heutigen Erkenntnissen war es der Geheimdienst. Es folgen weitere Gemetzel wie der Sturm auf ein Musical-Theater oder auf die Schule in Beslan, politische Morde wie die Vergiftung Alexander Litwinenkos in London. Auch Masha Gessen kann nicht sicher sagen, was von all dem Putin selbst angeordnet hat. Aber wie sollte es ohne ihn geschehen sein?
Jelzins Russland war ein Chaos. Putin hat mit Härte in jeder Lebenslage und ohne Rücksicht auf Menschenleben, Eigentum und Meinungsfreiheit die Ordnung wieder hergestellt. Es ist nicht irgendeine Ordnung, sondern es ist im Grunde die alte. „Der spätsowjetische Staat hatte darauf gebaut, die Vielen zu benutzen und die Wenigen zu bestrafen. Dieses System war nun weitgehend wieder hergestellt“, schreibt Masha Gessen. Mit dem Unterschied, dass einige Leute unvorstellbar reich geworden sind – darunter auch Putin selbst, was sich noch gar nicht überall herumgesprochen hat.
Eine Enthüllung? Nein, eine Anklage
Restauration des Sowjetsystems verbunden mit persönlicher Bereicherung: Das ist, so Gessen, seit Dresden die Mission des Wladimir Putin.
Das Buch ist zwar keine Enthüllung, wie es im deutschen Untertitel heißt. Eher eine Anklageschrift. Trotzdem ist sein Erscheinen jetzt, so kurz vor der Wahl, ein Ereignis. Und es zeugt vom neuen Mut der russischen Opposition. Das letzte Buch dieser Art hatte Anna Politkowskaja geschrieben. Sie wurde 2006 ermordet – aus Gründen, die aufzuklären Putins Russland bis heute schuldig geblieben ist.
Das Buch: Masha Gessen: „Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin – eine Enthüllung“ Piper, 384 S., 19,99 €. Verkauf ab 1. März.