Essen. . Der Bochumer Historiker Bernd Faulenbach hat die Geschichte der SPD in den 70er-Jahren erforscht. Auf einen euphorischen Aufbruch folgte eine Krise, die uns eigentlich bis heute beschäftigt. Mit DerWesten sprach Faulenbach über das „sozialdemokratische Jahrzehnt“.
Ein Allzeit-Hoch – und der Beginn von Problemen, die die Partei bis heute beschäftigen: Der Bochumer Historiker Bernd Faulenbach hat die Geschichte der SPD in den Siebziger-Jahren geschrieben.
Die SPD in den 70ern – da denkt man an Brandt, Wehner, Schmidt. Kann man beim Blick auf dieses politische Personal wehmütig werden?
Das waren in der Tat außergewöhnliche Führungspersönlichkeiten. Die SPD hatte aber auch in den 60er-Jahren eine besondere Attraktivität als Partei der Modernisierung. Es gab eine Grundwelle der Gesellschaft, die auf Reformen drängte, und die SPD hat es geschafft, diese Reformbewegung aufzugreifen. Das hat viele junge Leute in die Partei gezogen.
Heute fragt man sich, wie die SPD den Dissens zwischen den Anhängern der Agenda 2010 und ihren Gegnern aushält. Waren die Gräben in den 70er-Jahren vergleichbar tief?
Hinter der Forderung „Mehr Demokratie wagen“ hat sich tatsächlich die ganze Partei versammelt. Aber die SPD hat auch in der Regierung immer den Hang, zugleich Opposition zu sein. Schon Anfang der 70er-Jahre unter dem Kanzler Brandt bildeten sich Flügel heraus.
Schmidt war gegen den Radikalen-Erlass
An welchen Themen schieden sich die Geister?
Anfangs war es die Frage, wie weit die Reformen gehen sollten. Die Jusos wollten System-überwindende antikapitalistische Reformen, die Regierung hingegen beschloss außer Reformen auch den Radikalenerlass. Wobei Schmidt interessanterweise ein Gegner des Erlasses war. Später polarisierten die Anti-AKW-Bewegung und der Nato-Doppelbeschluss.
Gab es damals in der SPD auch schon eine Debatte über die Grenzen des Sozialstaates, wie sie nach der Jahrtausendwende unter Schröder geführt wurde?
Anfangs wurde der Sozialstaat rasch ausgebaut, aber 1973/74 kam die Wende: Ölkrise, Konjunktureinbruch, dauerhaft niedrige Wachstumsraten – Schmidt versuchte daraufhin eine Haushaltskonsolidierung, und das führte zu Konflikten. Das war praktisch die Wende hin zu den Problemen, die uns bis heute beschäftigen.
Keiner wusste: Ist die Ökologie-Bewegung rechts oder links?
Für die zweite Phase der 70er-Jahre borgen Sie sich bei Jürgen Habermas den Begriff der „neuen Unübersichtlichkeit“. Heute erinnern sich Viele an die 70er-Jahre als eine ziemlich behagliche Zeit.
Die politische Geografie änderte sich damals erheblich: Die Ökologie-Bewegung kam auf, und man wusste am Anfang noch nicht einmal, ob die links oder rechts war. Der Konservatismus erstarkte. Und die Zukunftsgewissheit kam abhanden, die Sozialdemokratie verlor viel von ihrer utopischen Energie.
Wie sozialdemokratisch waren damals die anderen Parteien?
In der Tat haben sich die anderen an der SPD orientiert. Die Politisierung der gesamten Gesellschaft kam auch der CDU zugute. Erst jetzt unter Kohl und Biedenkopf wandelte sie sich vom Honoratiorenverein zu einer modernen Partei. Sie diskutierte sogar die neue soziale Frage. In der Ostpolitik zog sie sich freilich auf sehr radikale Positionen zurück. Sie lehnte ja sogar den KSZE-Prozess ab, das taten außer ihr nur die albanischen Kommunisten.
Mit der FDP gab es durchaus viele Gemeinsamkeiten
Und die FDP? Sie war ja die ganze Zeit mit an der Regierung.
Sie trug die Außenpolitik mit, die Bildungspolitik, die Rechtspolitik – denken Sie nur an den Paragrafen 218. Schwierig wurde es in der Sozial-, Wirtschafts-, und Finanzpolitik. Hier forderte sie schließlich eine viel härtere Konsolidierung, und das führte dann auch zum Bruch.
Gab es Impulse von der FDP?
Initiativen, die die SPD dann aufgegriffen hätte? Da müsste man suchen, sieht man von Vorschlägen zur Senkung der Sozialabgaben ab.
Als die Selbstbeteiligung an Kuren eingeführt wurde
1982 zerbrach die Koalition. Welchen Anteil hatte daran die SPD?
In der SPD hat sich Anfang der 80er-Jahre Regierungsmüdigkeit breitgemacht. Das lag auch an der Konsolidierungspolitik. Da wurden zum Beispiel der Rentnerbeitrag zur Krankenversicherung oder Selbstbeteiligung an Krankenhaus- und Kurkosten eingeführt, aus heutiger Sicht eher kleine Sachen. Aber dafür hatten Sozialdemokraten gerade zu stehen und das war im Ruhrgebiet keine einfache Aufgabe. Bedeutsam war das Lambsdorff-Papier, das weitreichende Einschnitte wollte. Eine Trennung hielt schließlich auch Helmut Schmidt für unausweichlich.
Und der Streit um den Nato-Doppelbeschluss?
Für den Bruch der Koalition war der nicht ursächlich, aber er spaltete die SPD, auch Brandt und Schmidt, wie der von mir ausgewertete Briefwechsel zeigt. Später haben sie sich allerdings auch wieder versöhnt.
Brandt feilte an jedem Nebensatz, Schmidt eher nicht
Sie haben sich die ganze Zeit geschrieben?
Ja, wenn auch unregelmäßig. Brandt feilte an jedem Nebensatz, Schmidt verschickte auch Briefe, in denen mal was durchgestrichen war.
Sie sind selbst seit 1969 SPD-Mitglied. Wie nähert man sich als Historiker dem eigenen Verein?
Es ist für keine Gruppierung von Vorteil, wenn sie sich über ihre eigene Vergangenheit Illusionen macht.
Aus Ihrer eigenen Erfahrung: Waren die 70er-Jahre das beste Jahrzehnt, um Sozialdemokrat zu sein?
Nun, ein Ranking kann man da schwerlich vornehmen. Aber die 70er-Jahre waren aus heutiger Sicht der bisherige Höhepunkt sozialdemokratischer Politik. 1998 bis 2009 hat die Partei die Politik nicht in vergleichbarer Weise bestimmen können. Globalisierung, Neoliberalismus, Marktradikalismus – das Zeitklima war für sozialdemokratische Politik viel ungünstiger.
Das Buch:
Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969-1982. Dietz, 824 S., 48 Euro.