Beirut. . Burj Barajneh ist ein Camp für palästinensische Flüchtlinge am Rand von Beirut. Sie leben mit und in der Vergangenheit – und ohne große Zukunft .

Khalil ist ein aufgeweckter Junge. Selbstbewusst, offen, freundlich. Für seine elf Jahre hat er klare Vorstellungen. Khalil will Innenarchitekt werden. Der Junge ist gut in der Schule, sagt sein Vater Walid, sein Englisch ist passabel. Aber Khalil lebt in Burj Barajneh. Hier ist viel Vergangenheit und wenig Zukunft. Der „Turm der Türme“, so lautet die Übersetzung von Burj Barajneh, ist ein ein Lager für palästinensische Flüchtlinge am Rand der libanesischen Hauptstadt. Ein Monster aus Stein, einen Quadratkilometer groß. In seinen Eingeweiden sind 18 000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Vielleicht sind es auch mehr, niemand weiß es genau. Die Hälfte von ihnen soll jünger als 25 Jahre sein.

„Ich würde gerne in Beirut leben“, sagt Khalil. Beirut ist jenseits der Straße, keine Mauer trennt das Flüchtlingscamp vom Rest der Stadt. Aber Beirut ist eine andere Welt. Von den Verheerungen des Bürgerkriegs in den siebziger und achtziger Jahren ist in der Stadt nur noch wenig zu sehen, auch nicht von den Wunden, die der Krieg mit Israel im Jahr 2006 geschlagen hat. Das kernsanierte Zentrum Beiruts ist Luftlinie zwei Kilometer vom Camp entfernt. Dort hat der Reichtum Einzug gehalten. Scheichs aus den Golfstaaten machen am Wochenende Shoppingtour durch den Juwelen-Basar. Wer es sich leisten kann, kauft bei Bulgari, Dolce&Gabbana, Louis Vuitton, Yves Saint Laurent ein.

In Burj Barajneh sind die Menschen froh, wenn sie genug zu Essen haben. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Das Camp wuchert seit 1948, dem Jahr, in dem Israel seine Unabhängigkeit erklärte. Für die Palästinenser ist 1948 das Jahr der Nakba, der großen Katastrophe, in der Hunderttausende von ihnen ihre Heimat verloren. Viele der Nachfahren der Flüchtlinge leben noch heute in Camps, allein im Libanon gibt es zwölf. Was provisorisch sein sollte, ist Schicksal geworden. Burj Barajneh ist nicht das größte, aber das mit Abstand am dichtesten besiedelte dieser Camps.

Nicht gut gelitten vonden arabischen Brüdern

Die libanesische Gesellschaft hält sich nicht mit der Vergangenheit auf. Die konfessionellen und religiösen Gräben wachsen allmählich zu, die Erinnerung an den Bürgerkrieg wird verdrängt. Nicht vergessen ist aber, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO mit verantwortlich für den Ausbruch des Krieges war. Seitdem sind Palästinenser, arabische Brüder hin oder her, nicht mehr gut gelitten. Sie gelten noch immer als potenzielle Unruhestifter. Jobs bekommen sie nicht, allenfalls als Tagelöhner. Sie sind die Abgehängten, die Verlierer des libanesischen Aufschwungs.

In den Gassen von Burj Barajneh. Immer wieder sterben hier Menschen durch Stromschläge. (Fotos: Houssam Mchaiemch)
In den Gassen von Burj Barajneh. Immer wieder sterben hier Menschen durch Stromschläge. (Fotos: Houssam Mchaiemch)

Fünf, sechs Stockwerke sind die ineinander verwachsenen Häuser in Burj Barajneh hoch, wird mehr Wohnraum gebraucht, setzen sie ein Stockwerk darauf. Die regennassen Gassen sind beklemmend eng. Bläuliche Abgaswolken umwabern die Auslagen der wenigen kleinen Ladenlokale. Die Abgase stammen von den schrottreifen Rollern, mit denen sich junge Männer ihren Weg bahnen. Knapp über Kopfhöhe winden sich Stromkabel, als habe eine gigantische Spinne auf einem ziemlich bösen Trip ihr Netz zwischen den Häuserschluchten gesponnen. Den größten Platz in Burj Barajneh haben sie Picadilly Circus genannt, hier finden Versammlungen und Trauerfeiern statt. Der „Platz“ ist dreißig Quadratmeter groß.

Irgendwo in diesem Labyrinth lebt Khalil Samrawi mit seinen Eltern. Zwei Zimmer, zugeteilt von irgendwem. Vater Walid ist 54. Er wurde schon im Camp geboren, ursprünglich stammt die Familie aus Acre in Galiläa im Norden Israels. Walid Samrawi arbeitet als Wachmann im Camp, für 200 Dollar im Monat. Er ist krank, seine Frau auch. Er hat Herzprobleme, bei ihr sind es die Nerven. Manchmal, sagt Herr Samrawi, habe er noch Hoffnung, nach Palästina, in die Heimat ausreisen zu können. „Aber die Hoffnung schwindet.“

Sein Sohn Khalil hat noch Hoffnung. Das liegt auch an der PWHO, der Palestinian Woman Humanitarian Organisation, einer Nichtregierungsorganisation, die im Camp sieben Zentren unterhält. Khalil geht regelmäßig nach der Schule zu PWHO, so wie fünfzig andere Jungen und Mädchen. „Viele Kinder hier empfinden ihr Leben als wertlos. Wir wollen ihnen ihren inneren Frieden wiedergeben“, sagt Olfat Mahmoud, die Direktorin der Organisation. Olfat Mahmoud ist 51, auch sie wurde hier im Camp geboren, verbrachte aber einige Jahre in London. Als sie dort ankam und das erste Mal ausging, hat sie sich gefühlt wie „ein Schmetterling“.

Sie ist aber zurückgekehrt nach Burj Barajneh. „Wir müssen unseren Leuten helfen“, sagt Mahmoud. Den Männern, deren Frust und Wut über ihre Aussichtslosigkeit häufig in Gewalt umschlägt, den depressiven Frauen, den Kindern, die in einer Umgebung aufwachsen, in der es kein Grün, keinen Garten, keinen Platz zum Spielen gibt und die schon allzuoft mit zehn, elf Jahren das Vergessen im Rausch suchen. Das Camp ist ein rechtsfreier Raum, die libanesische Polizei hat keinen Zutritt. Ein Komitee regelt das Leben hier drin.

„Wenn das Leben keinen Wert hat, ist es einfach, Gehirne zu waschen“, sagt Olfat Mahmoud. Verführer gibt es in Burj Baranajeh zuhauf. Hier werden alte, tote Männer zu Helden verklärt. An den Häuserwänden kleben Plakate, auf denen der 2004 gestorbene Palästinenserführer Jassir Arafat zu sehen ist, natürlich, aber auch der hingerichtete irakische Machthaber Saddam Hussein, oder die 2004 von Israel liquidierten Hamas-Führer Ahmad Yasin und Abd al-Aziz ar-Rantisi. Ein Leben mit und in der Vergangenheit.

(Grafik: Marc Albers)
(Grafik: Marc Albers) © NRZ

Olfat Mahmout und die anderen von PWHO versuchen, die ständigen Spannungen zu entschärfen. Tanz, Theaterspiele, Diskussionsrunden – damit wollen sie den Leuten beibringen, dass Konflikte nicht zwangsläufig mit Gewalt gelöst werden müssen. Unterstützt werden sie vom Zivilen Friedensdienst der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, kurz GIZ. Stefanie Pollender arbeitet hier als Friedensfachkraft. „In geschützten Räumen ändern die Kinder ihr Verhalten“, sagt sie. „Manche von ihnen könnten zukünftige Führer werden. Es ist wichtig, dass sie früh über Alternativen zur Gewalt nachdenken.“

Friedensarbeit stößtan ihre Grenzen

Im PWHO-Zentrum tanzen Khalil und die anderen Kinder. Sie lachen ausgelassen. Einer der Freunde von Khalil hat einen Brief geschrieben. Er liest ihn mit heller Stimme vor: „Wir sind die palästinensischen Kinder. Wir respektieren die anderen Kinder. Wir wollen Freiheit. Wir hoffen auf eine bessere Zukunft. Man fühlt sich verzaubert, wenn man durch das Land Palästina läuft. Mein einziger Wunsch ist ein freies Palästina“.

Was er von israelischen Kindern hält? „Das sind Terroristen. Die sind schlecht.“ Friedensarbeit stößt in Burj Barajneh schnell an ihre Grenzen.