Moskau. . Trotz Kälte und massiver Drohungen gingen am Samstag um die 100 000 Menschen in Russland auf die Straße, um ihrem Unmut über Putin und das Regime Luft zu machen. Bei der organisierten Gegendemonstration ging es deutlich verhaltener zu.

17 Grad minus haben sein Gesicht gerötet, aber Sergej Alexandrowitsch hat gute Laune: „Heute sind nicht weniger Leute gekommen als bei der letzten Demonstration im Dezember, auf dem Sacharow-Platz“, sagt der pensionierte Biologieprofessor. Am Samstag versammelten sich nach Schätzungen von Journalisten zwischen 80 000 und 120 000 Menschen zu einem Protestmarsch für ehrliche Wahlen und gegen Wladimir Putin von der Metrostation Oktjabrskaja zur Bolotnaja Ploschad. Auch das Verbot der Behörden, Thermoskannen mitzubringen, schreckte sie nicht ab.

Unter Druck gesetzt

Gleichzeitig nahmen im Park des Sieges nach Angaben der Zeitung Kommersant bis zu 35 000 Demonstranten an einer Kundgebung gegen die drohende „Orange Revolution“ und für Putin teil. Allerdings zählte die Moskauer Polizei auf der Bolotnaja gerade 36 000 Oppositionelle, im Park des Sieges dagegen 138 000 Putin-Anhänger. Putin selbst sprach gar von 190 000 Teilnehmern.

Auf der Bolotnaja herrschte trotz der Kälte Frohsinn. Mit heftigem Beifall feierte die Menge den Auftritt von vier Fallschirmjägerveteranen, die in Uniform ein Schimpflied auf Putin sangen: „Du hast die Armee verraten, auf die Soldaten spuckst du“. Wie schon im Dezember forderten die Demonstranten die Freilassung der politischen Gefangenen, die Zulassung der Oppositionsparteien und die Ansetzung ehrlicher Duma- und Präsidentschaftswahlen.

Angst vor der Wahrheit

Währenddessen prangten auf der Konkurrenzveranstaltung im Park des Sieges leuchtend blaue Plakate: „Russland wählt Putin“. Die Redner warnten vor der „Orangen Pest“ auf der Bolotnaja. „Sie wollen den Zusammenbruch“, rief der TV-Moderator Maxim Schewtschenko. „Sie wollen Russland im Blut ersäufen.“ Allerdings blieb das Publikum sehr ruhig. Schon eine Viertelstunde nach dem offiziellen Beginn der Kundgebung gingen die Teilnehmer zu Hunderten. Im Gegensatz zu den Oppositionellen auf der Bolotnaja versteckten sie oft ihre Gesichter vor den Kameras der Fotografen. Eine etwa 50-jährige Frau schüttelte auf die Frage nach ihren Eindrücken den Kopf. „Ich sage nichts. Ich verliere sonst meine Arbeit.“

Zwangsrekrutieren zur Putin-Kundgebung

Seit Tagen berichten russische Medien, dass Behörden, Schulen, aber auch Privatbetriebe aus Moskau und anderen russischen Großstädten ihre Mitarbeiter unter Druck setzen, zu der Kundgebung für Putin zu gehen. Tatsächlich standen im „Park des Sieges“ über 100 Busse, in denen De­monstranten antransportiert worden waren. An der Metro-Station des Parks waren Männer zu sehen, die mit Papieren winkten, um ihre Kollegen zu sammeln, andere Gruppen verließen die Demonstration sogar geschlossen. Die Metro-Station wurde für abfahrende Züge gesperrt, mangels anderer öffentlicher Verkehrsmittel marschierten Tausende Teilnehmer zu Fuß bis zum 3,5 Kilometer entfernten Kiewer Bahnhof. „Sie haben die Leute frieren lassen, sie haben sie erniedrigt“, bloggt der Moskauer Drehbuchautor Oleg Kosyrew. „Schon einen Monat vor der Wahl wenden sie massiv Zwang an.“ Das Regime tue alles, um mögliche Putin-Wähler zu vergraulen, sagt auch der leitende Redakteur einer großen Moskauer Zeitung. Aber er dürfe nicht über die Zwangsrekrutierung für die Putin-Kundgebung schreiben, das habe die Chefredaktion verboten, auf Druck von Putins Pressesprecher.