Essen. . Der britische Historiker Ian Kershaw versucht in seinem jüngsten Buch zu ergründen, warum die Deutschen im Zweiten Weltkrieg lieber kämpften als zu kapitulieren. Es sei etwas typisch Deutsches dabei, findet er. Ein Interview

Vernichtende Siege, vernichtende Niederlage: Kein Ereignis ihrer Geschichte fesselt die Deutschen bis heute so wie der Zweite Weltkrieg. Der Hitler-Biograf Ian Kershaw hat jetzt ein gefeiertes Buch über die Deutschen in den letzten zehn Monaten des Krieges vorgelegt. Mit ihm sprachen wir über ein Volk bei der Selbstzerstörung.

Professor Kershaw, war die letzte Phase des Krieges zugleich seine brutalste?

Ian Kershaw: Auf jeden Fall. Es war die Zeit eines riesigen Massensterbens in Europa. Fast die Hälfte der gefallenen Wehrmachts-Soldaten fiel in dieser Zeit. Es gab mehr zivile Deutsche Opfer als in allen Kriegsjahren zuvor. Und auch die Todesmärsche der NS-Häftlinge fielen in diese Zeit.

Dabei war der Krieg ja verloren. Ab wann eigentlich?

Objektiv war er das nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944. Aber die NS-Machthaber sahen es anders: Sie verabschiedeten sich zwar von ihren ehrgeizigen Kriegszielen, glaubten aber noch, sie könnten eine Art Remis erreichen. Mit der Ardennen-Offensive, mit ihren Wunderwaffen. So ganz verloren gaben sie den Krieg erst ab Januar 1945.

Hitler: Charismatischer Herrscher ohne Charisma

Die Bereitschaft der Deutschen, weiterzukämpfen, schien ungebrochen. Wie ist das zu erklären?

Es gibt eine ganze Reihe von Gründen. Man war sich einig, dass das Reich verteidigt werden muss; man fürchtete die Rote Armee; man fürchtete den Terror der Nazis; für die NS-Machthaber selbst gab es kein Leben nach dem Krieg, sie hatten nichts zu verlieren; die Versorgung der Bevölkerung funktionierte; die Generäle blieben loyal; und die Strukturen von Hitlers charismatischer Herrschaft bestanden, obwohl sein Charisma längst verflogen war. Das war das Entscheidende.

Aus heutiger Sicht war Hitler als Feldherr spätestens seit Stalingrad entzaubert.

Stalingrad war ein Einschnitt, aber schlimmer war der Durchbruch der Roten Armee durch die Heeresgruppe Mitte. Und der war viel später, im Juni 1944. Es ist kein Wunder, dass es ausgerechnet in dieser Situation zum Attentat kam.

Im Ersten Weltkrieg war es anders. Da setzte sich in der Heimat und in der Truppe die Erkenntnis durch: Es hat keinen Zweck mehr.

1918 gab es politische Parteien, einen Reichstag, keine Gestapo, keine feindlichen Truppen auf deutschem Boden. Es gab auch keine Monopolpartei wie die NSDAP, die ihre Machtbefugnisse in der letzten Phase des Krieges enorm ausgeweitet hat. Und im Vergleich zum Kaiserlichen Heer war die Disziplin in der Wehrmacht drakonisch. Bedenken Sie: Im ganzen Ersten Weltkrieg wurden 48 deutsche Soldaten hingerichtet, im Zweiten Weltkrieg waren es 20000.

Die Luftangriffe verfehlten ihr Ziel nicht

Welche Wirkung hatten die Luftangriffe auf deutsche Städte? Zermürbung oder Entschlossenheit?

Zermürbung, würde ich sagen. Die Angriffe waren zu massiv, sie unterminierten die Moral. In den bombardierten Städten hängte man die Hitlerbilder von den Wänden, der Hitlergruß verschwand von der Straße.

Waren die Bombardements ein Verbrechen?

Das ist eine heikle Frage. Aus heutiger Sicht sind sie beschämend und verwerflich. Aber damals hat man sie als legitime Waffe in einem Krieg betrachtet. Entsprechend muss ein Historiker das Handeln der Personen beurteilen.

Deutsche Opfergeschichten – über den Bombenkrieg, über Flucht und Vertreibung – haben zuletzt ein breites Publikum gefunden. Geraten die deutschen Verbrechen aus dem Blick?

Das muss nicht so sein. Man kann die deutsche Bevölkerung durchaus als Opfer von Ereignissen betrachten, die sie in dieser Phase nicht mehr beeinflussen konnte. Man darf nur die Perspektive nicht verlieren und die Ursachen dafür nicht unterschlagen. Und man darf die deutschen Opfer nicht gleichsetzen mit den eigentlichen Opfern eines von Deutschland aus entfesselten völkermörderischen Eroberungskrieges.

Pflichterfüllung, die oberste Tugend

Ihr Eindruck: Ist verbissenes Durchhalten eigentlich typisch deutsch?

Es ist etwas typisch Deutsches dabei, das kann man sagen. In Italien oder Großbritannien wäre es kaum vorstellbar, dass man bis zur totalen Zerstörung des Landes durchhält. Aber ich führe das nicht auf einen „nationalen Charakter“ zurück, sondern auf kulturelle Einimpfungen.

Was waren das für Einimpfungen?

Deutsche Generäle oder Beamte zum Beispiel waren so erzogen, dass sie Pflichterfüllung als oberste Tugend ansahen. Und die Schmach von 1918, die Dolchstoßlegende der 20er- und 30er-Jahre – auch das wirkte nach.

Wie war es zur gleichen Zeit in Japan?

Das kann man eigentlich ganz gut vergleichen. Der Endkampf der Japaner hat ähnliche Züge. Sie waren nur konsequenter als die Deutschen. Wenn die japanischen Generäle sagten, dass sie bis zur letzten Kugel kämpfen würden, dann taten sie das wirklich.

Die Deutschen denn nicht?

Bei den Deutschen war das selten wenn überhaupt der Fall.

Interview: Achim BeerInterview: Achim Beer