Essen. . Am liebsten wählte die Stasi als aufmüpfig aufgefallene Jugendliche aus, um sie als Junior-Spitzel ihre Freunde und Familie ausspionieren zu lassen. Eine ARD-Dokumentation hat nun mit einigen der Unfreiwilligen von damals über ihre Arbeit gesprochen.

Der Befehl hat die Nummer 11/66. Er kommt von Stasi-Minister Erich Mielke. Leute wie der Oberleutnant Müller in Dresden setzen ihn um und stellen die Ausführung sicher. Es geht um die Kontrolle der DDR-Jugend durch den Staat. 8000 Teenager, gezielt Abiturienten darunter, hat das Ostberliner Regime zur Spitzeltätigkeit gepresst. Marko (damals 16), Kerstin (17) und Elvira (18) sind drei von ihnen. Wenn sie heute, längst Bürger in einem demokratischen Staat, 25 Jahre zurückdenken, befällt sie Wut. Es kommen die Tränen. Marko hat auch einen bleibenden Körperschaden davongetragen.

MDR-Autorin Annette Baumeister hat das Schicksal der Drei am späten Mittwochabend in der ARD-Doku „Stasi auf dem Schulhof“ beschrieben. Die Staatssicherheit habe „unter die Haut der Jugendlichen kriechen und in ihr Herz schauen wollen“, sagt die Autorin. Die Bilanz: Es ist dem Apparat nicht gelungen. Allenfalls Zickenkriege haben sie notieren können. „Wir haben pubertäres Geschwätz aufgeschrieben“, sagt die damals zur „Inoffiziellen Mitarbeiterin (IM)“ gezwungene Kerstin.

Der eigentliche Skandal also sind die Methoden, mit denen die Jugendlichen für das rote Netzwerk eingefangen wurden. Aufsässige und auffällige Schülerinnen und Schüler waren die bevorzugten Opfer. Wie Kerstin Harrabi. In den 70er-Jahren besucht sie in Thüringen das Internat Wickendorf für angehende Russischlehrerinnen. Die Minderjährige wird eines Tages ins Direktorenzimmer bestellt, wo zwei Stasi-Offiziere warten. Der Direktor Dieter Barth bleibt im regimetreuen Gehorsam („Ich war immer für die DDR“) draußen. Die Schülerakten hatte er schon vorher an die Staatssicherheit geliefert, „gegen Quittung“ natürlich.

„Die wussten alles über mich“

Kerstin aus Jena hatte mal in einem Jugendzentrum zu viel eigene Meinung gehabt. Das war weitergegeben worden. Als sie den Stasi-Leuten gegenübersitzt, hat sie das Gefühl: „Die wussten alles über mich.“ Schließlich sichert sie unter einem Mix aus Schmeichelei („endlich wichtig genommen“) und Drohung („die Angst um das Abitur“), aus Zigaretten und Alkohol die Mitarbeit als Spitzel zu, unterschreibt eine „Schweigeverpflichtung“ und erzählt später ein paar wohl belanglose Dinge über Mitschülerinnen, wenn sie sich mit dem Führungsoffizier im Lada trifft.

Elviras Mutter war in den Westen geflohen, ein IM Ralf hat Elvira ausgehorcht. So haben sie sie gekrallt. Elvira wurde wie Kerstin umgarnt und unter Druck gesetzt. Sie wurde sogar gezwungen, ein Jahr lang auf jeden Kontakt zur Mutter jenseits des Stacheldrahts zu verzichten, obgleich die den zum Kind verzweifelt sucht. Elvira wurde durch den Westen freigekauft.

Das Bein geopfert, um raus zu kommen

Und Marko? Es ist vielleicht das berührendste Schicksal aus einer Zeit, in der die DDR erste Fühler in den Westen ausstreckte. Französische Schüler waren an der Oberschule Friedrich Engels in Dresden gewesen. Nach ihrer Abreise blieb man im Kontakt. Es kamen Briefe, in denen die West-Gäste beispielsweise über die „schlechten Straßen“ im Osten lästerten. Den Brief fand man bei Marko. Das reichte. Auch er wurde erpresst, einen Freund auszuspionieren. Irgendwann wurde ihm klar: „Ich kann mich nicht so verhalten, dass ich unbeschädigt rauskomme.“ Er blieb stehen, als eine Straßenbahn kam. Sie rollte über sein Bein. Marko sagt heute: „Der Unfall ist im richtigen Moment passiert.“

Bleibt Kerstin. Die Staatssicherheit hat von ihr verlangt, mit dem Sohn eines Zahnarztes zu schlafen, den die Offiziere der Planung einer Republikflucht verdächtigen. Es war der Punkt, an dem sie allen Kontakt zum Führungsoffizier abbrach. Dann griff der Lauf der Weltgeschichte ein.