Moskau. . Bei den Duma-Wahlen blamierte sich die Staatspartei „Einiges Russland“ nicht nur mit kräftigen Stimmenverlusten . Die wachsende Internet-Szene entlarvt illegale Kampagnen im Wahlkampf und dreiste Manipulationen an den Urnen. Eine Analyse

Sibirische Bären markieren ihr Revier mit den Krallen: Die hauen sie möglichst hoch in die Rinde eines dicken Baumes, um anderen Bären zu zeigen: Ich bin hier und groß und stark. Auch etwas kleiner geratene Bären wissen sich zu helfen. Sie schleppen Baumstümpfe heran, klettern hinauf und platzieren ihre Krallenspur so 30 oder 40 Zentimeter höher. Ein eher getürktes „Ich bin groß und stark“.

Kein Zufall, dass die Staatspartei „Einiges Russland“ einen Bären als Wappentier führt. Bei allen Wahlen, an denen die „Einheitsrussen“ seit ihrer Gründung 1999 teilgenommen haben, sind sie immer größer und stärker geworden. Aber ihre Ergebnisse galten von Sieg zu Sieg als fragwürdiger.

Die Duma-Wahlen vom Sonntag sind bemerkenswert, weil der einheitsrussische Bär erstmals bei einem russlandweiten Urnengang geschrumpft ist, und das heftig: Von über 64 auf knapp 50 Prozent der Wählerstimmen, also um mehr als ein Fünftel.

Dumm und dreist

Aber noch bemerkenswerter an diesen Wahlen ist, dass sich bei dieser Gelegenheit ein Großteil der Russen davon überzeugt hat, wie dumm und dreist dieser Bär mogelt. Video- und Audioaufzeichnungen, die dokumentieren, wie im Wahlkampf „Einheitsrussen“ das Wahlvolk mit Drohungen und Geldversprechungen bearbeiten, wurden Hits im russischen Internet.

Jetzt kommen per Handy gefilmte Szenen hinzu, auf denen „Einheitsrussen“ Studenten von einem Wahllokal zum anderen kutschieren, damit sie bis zu 40mal ihr Kreuz für den Bär machen. Vor der auch in Russland wachsenden Internetöffentlichkeit steht der Bär jetzt ertappt, blamiert und ziemlich mickrig da.

„Partei der Diebe und Gauner“

Aber das Bärchen bleibt unverschämt, beansprucht mit seinen 49,5 Prozent der Stimmen glatt die absolute Parlamentsmehrheit. Dabei gibt es in Russland keine unpopulärere Partei als diesen Wahlverein der Bürokraten und Apparatschtschiki, vom Volksmund längst „Partei der Diebe und Gauner“ genannt. Für sie stimmen TV-süchtige Rentnerinnen, die sich von der altbackenen Vorabendspropaganda der Staatskanäle einlullen lassen. Oder Beamte, aber selbst die oft nur noch unter Zwang. Und wer sonst?

Nach Informationen aus dem Moskauer Rathaus unterstützen 9 Prozent der hauptstädtischen Wähler die Partei, der Wahlapparat aber hat mit Hilfe von Druck, Schmiergeld und massivem Betrug 46 Prozent daraus gemacht.

99 Prozent der Stimmen in Tschetschenien

In Tschetschenien holte die Partei über 99 Prozent, dort wie anderswo ist zu vermuten, dass nur ein Bruchteil der Stimmen für die „Einheitsrussen“ von wirklichen Anhängern stammt. Und das angesichts einer Opposition, deren Parlamentarier für ihre Zahnlosigkeit berüchtigt sind. Oder die erst gar nicht zu den Wahlen zugelassen wurde. Wie der Schriftsteller Viktor Schenderowitsch räsonierte: „,Einiges Russland’ würde auch gewinnen, wenn nur ein Prozent der Wähler für sie stimmt.“ Mit anderen Worten: Nicht das Volk, sondern der Kreml ist die Quelle der Macht. Die Demokratie in Russland funktioniert nicht.

Aber der Wahlsieg der Einheitsrussen knirscht – wie Eis, das zu brechen beginnt. Die russische Gesellschaft gerät in Bewegung. Und das ist das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Wahlen. Die straff zensierte und manipulierte, gehorsame Fernsehöffentlichkeit wird von einer neuen jungen Gegenöffentlichkeit bedrängt, die schon aus Altersgründen weniger Angst hat. Die bloggt, skypt, twittert, kritisiert und spottet. Noch ist sie in der Minderheit. Aber sie wächst.

Antike Vasen in flachem Gewässer

Mit der alten Mehrheit gerät auch deren Heroe und Führer ins Wackeln: Wladimir Putin. Der Kampfflieger, Waldbrandlöscher, Tiger- und Walfischretter, der Superputin, den die Staatsmedien jahrelang aufgepumpt haben, verliert bei jeder neuen Popularitätsumfrage an Luft. Aber wer sich vor laufenden TV-Kameras in 1,50 Meter Wassertiefe dabei filmen lässt, wie er antike Vasen entdeckt, muss sich nicht wundern, wenn diese archäologische Großtat zur Lachnummer auf youtube.ru wird. Putins Übereifer beim Polieren seines Macho-Charismas wirkt auch auf die Russen zusehends eitel.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Und nicht nur im Internet wachsen die Zweifel, dass ein wirklich guter Tatmensch regiert, während immer mehr Beamte immer mehr Schmiergeld kassieren, immer mehr junge Menschen an Drogen sterben, und die stattliche Rentenversicherung immer weniger Rücklagen besitzt.

Aber im März sind Präsidentschaftswahlen. Und diesmal könnte es sehr mühsam werden, das Bärchen namens Putin im ersten Wahlgang über die 50-Prozent-Marke zu hieven.