Essen. Organisatoren der Fußball-EM wollen erstmals ein System einsetzen, das alle Informationen aus Handy-Ortung, Kamera-Überwachung, Social Networks und Polizeidaten verknüpft, um mögliche Straftäter zu identifizieren. Datenschützer sind entsetzt.

Polen will bei der Fußball-EM 2012 eine Totalüberwachung in- und ausländischer Fans erproben. Zum Einsatz soll dabei erstmals das hoch umstrittene Überwachungssystem Indect kommen, das vom Bundeskriminalamt „wegen seines umfassenden Überwachungsgedankens“ strikt abgelehnt wird.

„Unser letzter Stand ist, dass Indect bei der EM getestet wird“, sagte der Düsseldorfer Europaabgeordnete Alexander Alvaro (FDP) zu derwesten.de. Indect wird seit 2009 für elf Millionen Euro im Auftrag der EU-Kommission für das 7. Forschungsförderungsprogramm entwickelt, das sicherheitstechnisch ausgerichtet ist. An der Entwicklung sind auch zwei deutsche Firmen und die Universität Wuppertal beteiligt. Die Federführung liegt bei der Universität im polnischen Krakau.

Das System ist in der Lage, sekundenschnell alle optischen und elektronischen Informationen aus Videoaufzeichnungen, Kommunikationsdaten, Handyortungen, sozialen Netzwerken wie Facebook, Internetseiten und Bevölkerungs- und Polizeidateien zu sammeln, die über eine „auffällig“ verhaltende Person weltweit verfügbar sind. Gleichzeitig soll es Fangesänge mit Audiosensoren abhören und analysieren. Indect koppelt dann alle Daten zusammen und entscheidet selbstständig, ob eine weitere Überwachung des „Verdächtige“ beispielsweise per Videodrohne nötig ist.

Alles Auffällige wird registriert

Als auffällig geraten bereits Menschen ins Visier des Systems, die im Aufnahmefeld einer Überwachungskamera sehr schnell laufen, die sich gegen die Laufrichtung einer Menge bewegen, Gepäck stehen lassen oder sich im Stadtbereich ein Auto näher betrachten. „Das Vorgehen widerspricht allen Datenschutzbestimmungen und ist in Deutschland eindeutig verfassungswidrig“, sagt der Europaabgeordnete Alvaro. Die Privatsphäre der Bürger sei gefährdet. Das EU-Parlament will sich noch einmal mit dem Vorgang befassen. Auch an der Wuppertaler Uni formiert sich Widerstand unter Studierenden.

Generell geben die Beteiligten wenig Auskunft über den Entwicklungsstand von Indect. Der Bundesdatenschutzbeauftragte ist bisher nicht eingeweiht. Das Bundeskriminalamt erklärt, es habe eine ihm angebotene Partnerschaft bei dem Projekt seit 2007 „mehrfach abgelehnt“, auch schriftlich. Allerdings sei Indect-Forschern Einblick in das BKA-eigene Projekt „Foto-Fahndung“ gegeben worden.

In Polen rüsten die Kommunen bereits auf. Lodz baut im Straßenraum 70 Kameras mit einem 360-Grad-Blickwinkel und 35facher Vergrößerung auf. Warschau hat dem Projekt nach Presseberichten die Videokameras der U-Bahn und am Flughafen freigegeben.

Ein Datenschutz-Monster

Wie funktioniert das Überwachungssystem? Als „gutes Beispiel“ dafür nennt der Europaabgeordnete Alvaro das Gedankenspiel mit dem potenziellen Kfz-Dieb. Also: Es ist Nacht. Ein Mensch wieselt um ein abgestelltes Fahrzeug. Die Überwachungskamera sieht das. Ihre Technik schöpft Verdacht. Will da einer das Auto klauen? „Die Software schlägt Alarm“, erklärt der FDP-Politiker. Indect, die automatisierte Überwachungsplattform, die Straftaten verhindern und verfolgen soll, beginnt mit der Arbeit. Sie löst eine Kontroll-Lawine aus. Das Gesicht des Verdächtigen wird erfasst, das Internet nach Fotos von ihm durchsucht. Bald ist ein Name zuzuordnen. Gehören Name und Wagen zusammen? Falls die Kfz-Datei ein Nein meldet, überprüft das System die nächste Datenbank, die der Polizei, nach einer Spur, die dieser Verdächtige hinerlassen haben könnte. Auch Facebook wird zu Rate gezogen, um die Person einordnen zu können. Passt was nicht, wird es besonders auffällig, kommt es zum letzten Schritt. Eine Drohne mit Videokamera wird den nächtlichen Streuner verfolgen. Man wird seine Handy überwachen. Es kommt zur Festnahme.

Vielleicht erwischen die Sicherheitsbehörden so einen notorischen Autodieb, vielleicht den Chef einer Bande der Organisierten Kriminalität, vielleicht das ganze Netz. Vielleicht gefällt dem nächtlichen Herumtreiber aber auch nur dieser Fahrzeugtyp, den er selbst kaufen möchte? Vielleicht hat er nur den Schlüssel zum Auto vergessen, das ihm vom Freund geliehen wurde? Dann ist er unschuldig. Indect hat dann den falschen Verdacht geschöpft.

Indect ist ein sicherheitstechnisches wie datenschutzrechtliches Monster, „ein automatisiertes System, das in der Lage ist, permanent Überwachungskameras, Websites und persönliche Computer zu durchsuchen, um kriminelles Verhalten aufzuklären“, wie die Experten seine Eigenschaften schildern. 17 Institutionen und Firmen in neun europäischen Ländern arbeiten daran mit. 2013 soll es perfekt sein. Der Einsatz in Polen bei der Fußball-EM wäre ein erster Testlauf. Mit Bestätigungen hält man sich in Warschau zwar zurück. Doch es ist erstens bekannt, dass in Polen eine heftige Hooliganszene besondere Sicherheitsprobleme bereitet. Und, zweitens, hat der polnische Projektbeauftragte Andrzej Czyzewski schon 2008 den Test für diese Gelegenheit angekündigt.

EU-Parlament will Indect stoppen

Datenschützer und Netzgemeinde sind sich nicht immer grün. Aber für beide Szenen ist Indect schon länger ein Thema, und in diesem Punkt stimmen beide überein: Da droht wirklich Big Brother. Als „bei uns illegal“ bezeichnete der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar das Programm gegenüber dem ARD-Magazin Kontraste. „Stopp-Indect“ heißt die Internet-Seite, die die Kritiker des Elf-Millionen-Euro-Projektes aufgebaut haben.

Indect stoppen möchten jetzt auch viele Politiker im europäischen Parlament. Sie haben den zuständigen EU-Kommissar Tajani vorgeladen, der ihnen erklären soll, warum Brüssel so eine Plattform entwickelt. Die Parlamentarier haben zwar vor dem Start 2009 das Geld bewilligt. Aber das ist pauschal für das 7. Forschungsförderungsprogramm passiert. „Die Auswahl der Projekte obliegt der EU-Kommission“, sagt selbst die Bundesregierung. Mehr sagt sie nicht. Auf eine umfangreiche Anfrage der Linken im Bundestag gibt man sich in Berlin auffällig einsilbig. Das Signal ist aber deutlich: Wir wollen damit nichts zu tun haben. Dabei steckt Deutschland mittendrin im Indect-Projekt. Zwei Firmen, die Berliner PSI transcom und das Unternehmen innotec data aus Bad Zwischenahn, haben aus Steuermitteln der EU Geld für ihre einschlägigen Forschungen erhalten – 280 000 und 360 000 Euro. Die Bergische Universität Wuppertal ist dabei, die sich besonders um den Kommunikationsaspekt kümmert. Schließlich, ganz im Anfang, mischte möglicherweise auch das Bundeskriminalamt (BKA) mit.

In den EU-Unterlagen tauche in diesem Zusammenhang ein Betrag von einer viertel Million Euro auf, die die Behörde zugesagt habe, sagt der FDP-Europaabgeordnete Alvaro. Er will jetzt mehr darüber wissen. Auch eine der Firmen behauptet, die oberste Polizeibehörde sei immer noch beratend dabei. In Wiesbaden wird scharf dementiert: „Dem BKA wurde 2007 von Seiten der Universität Krakau, die mit der Leitung des Indect-Projektes betraut ist, eine Partnerschaft angeboten. Dies hat das BKA aufgrund des umfassenden Überwachungsgedankens des Projektes abgelehnt“, heißt es dazu. Auch „eine Beteiligung des BKA an den Projektergebnissen ist nicht beabsichtigt“.

Trotz der weitgehenden Abstinenz in Deutschland gegenüber Big Brother 2012 werden deutsche Fans wohl in Berührung mit Indect kommen. 6000 pro Spiel werden bei der EM erwartet. Doch vielleicht werden sie von Kameras und Computern auch in Ruhe gelassen – wenn sie nicht zu schnell rennen, nicht zu laut schreien, nicht zu heftig mit den Armen rudern, kein Gepäck stehen lassen, sich also irgendwie nicht „anormal“ benehmen. Aber: „Ist es nicht sehr schwierig, bei einem Fußballspiel anormales Verhalten zu definieren?“, fragt der Düsseldorfer Alvaro.