Essen. . Vieles ist ungewiss vor den Parlamentswahlen am Montag – sogar, ob überhaupt gewählt werden kann. Wir erleben drei Tage, in denen fast alles möglich ist, sagt der Politologe Asiem El Difraoui. Versuch eines Überblicks in einem viergespaltenen Land.
Am Montag sollen in Ägypten die Parlamentswahlen beginnen. Doch die Gewalt ist auf die Straßen der Hauptstadt zurückgekehrt, 41 Tote waren bis Freitag zu beklagen. Keiner weiß, ob die Wahl wirklich durchgeführt werden kann. „Fast alles ist möglich“, sagt der Ägypten-Experte Asiem El Difraoui von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.
Die Demonstranten sind seit einer Woche wieder auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Ort, an dem die Revolution im Januar ihren Anfang nahm – und an dem sie zu Ende ging, bevor sie zu Ende gebracht war. Zwar trat der verhasste Präsident Mubarak damals zurück. Doch ging die Straße danach ein Bündnis mit der Armee ein, das sie heute bereut. „Das Militär und das Volk sind eins“, riefen sie im Februar. „Die Revolutionäre sind zu früh nach Hause gegangen“, sagte ein Aktivist dieser Tage.
Tantawi ist der neue Mubarak
Der Militärrat unter dem Feldmarschall Hussein Tantawi kontrolliert das Land und zögert mit demokratischen Reformen. „Hau ab“, rufen sie Tantawi jetzt zu, so wie sie es einst Mubarak zuriefen. Die Demonstranten fordern die Einsetzung einer zivilen Übergangsregierung, erst dann soll gewählt werden. Dahinter steckt Kalkül: Die linken und liberalen Parteien, die sie unterstützen, haben wenig Rückhalt, ihnen droht eine Wahlniederlage.
Das Militär ist etwas Besonderes in Ägypten: Staat im Staate und Wirtschaft in der Wirtschaft. Der Armee gehören Unternehmen, die Konsumgüter herstellen, und sie verdient Geld im Tourismus-Geschäft – merkwürdige Befugnisse, die die Finanzierung der riesigen Truppe sichern sollen. Trotzdem ist ihre Macht begrenzt. „Sie ist der größte Machtfaktor“, sagt Politologe El Difraoui, „aber mit dem täglichen Regierungsmanagement ist sie überfordert.“ Dafür ist denn auch die Regierung zuständig, die der Militärrat nach Belieben beruft und entlässt. Am Freitag wurde Kamal el Gansuri neuer Ministerpräsident, er war es schon unter Mubarak und ist 78. Sein erster Auftritt erweckte den Eindruck, dass er ebenfalls überfordert ist.
Auch die Islamisten sind gespalten
Die Muslimbrüder haben den jüngsten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Militärregierung lange zugesehen. Im Januar waren die Islamisten mit auf dem Tahrir-Platz, heute halten sie Ruhe für die erste Bürgerpflicht. Denn sie wollen unbedingt, dass die Wahlen stattfinden. Auf bis zu 60 Prozent schätzt man ihr Wählerpotenzial, sie sind im Volk verwurzelt wie keine zweite Organisation. Das schützt sie nicht vor Spaltung: Gerade mischen sich junge Muslimbrüder unter die Protestierer auf der Straße, wollen den Militärrat stürzen und die Wahlen verschieben.
Das Volk ist schwer zu fassen in Ägypten, es gibt kaum Meinungsforschung und was soll man da im Moment auch erforschen: Unter dem Eindruck der Ereignisse können Stimmungen fast täglich wechseln. So hatten die Protestierer am Anfang kaum Unterstützer. Doch das änderte sich, als die Polizei anfing, sie brutal zusammenzuschießen. Die meisten der rund 83 Millionen Ägypter leiden unter der schrumpfenden Wirtschaft und der wachsenden Kriminalität. Sie haben mit Kämpfen und Wahlen mutmaßlich wenig am Hut. „Sie“, sagt El Difraoui, „wollen einfach, dass das Land zur Ruhe kommt, damit sie ihre Familien ernähren können.“
Gibt es eine „große Geste“?
Fast alles ist möglich, sagt der Politologe: dass die Militärs stur Wahlen abhalten und es Auseinandersetzungen gibt. Oder dass wir eine „große Geste“ erleben, Tantawis Rücktritt, die Ankündigung einer zivilen Regierung. Difraoui sagt: „Was bis Montag passiert, steht in den Sternen. “