Berlin. . SPD-Chef Sigmar Gabriel plädiert angesichts der rechtsterroristischen Mordserie eindringlich für ein Verbot der NPD. Im Interview spricht er zudem über die Sozialdemokratisierung der CDU, die Kanzlerkandidatenkür seiner Partei und seine Bilanz als Vorsitzender.
SPD-Chef Sigmar Gabriel plädiert angesichts der rechtsterroristischen Mordserie im Interview eindringlich für ein Verbot der NPD – und nennt es eine „himmelschreiende Dummheit“, dass Union und FDP Finanzmittel für den Kampf gegen Rechtsextremismus zusammengestrichen haben.
Herr Gabriel, nach der Mordserie von Rechtsterroristen gibt es Rufe nach einem NPD-Verbotsverfahren. Zu Recht?
Sigmar Gabriel: Ganz unabhängig von dieser entsetzlichen Mordserie setze ich mich seit sehr langer Zeit für ein Verbot der NPD und dieser braunen Kameradschaften ein. Ich konnte noch nie verstehen, dass wir die Verbreitung menschenverachtender Parolen auch noch mit Steuergeldern unterstützen. Ich schäme mich dafür, dass im Land der Erfinder von Auschwitz Wahlplakate der NPD aufgehängt werden dürfen, auf denen ganz dreist mit Wortspiel „Gas geben“ für eine ausländerfeindliche Politik geworben werden darf. Was die Mordserie angeht, gibt es übrigens auch genug Grund sich zu schämen. Was wäre wohl los in Deutschland, wenn eine Gruppe von Islamisten eine solche Blutspur durch Deutschland gezogen hätte und die Opfer keine Türken oder Griechen, sondern Deutsche wären?
Was glauben Sie, was wäre los?
Gabriel: Ich bin sicher, wir hätten Straßensperren, Polizei auf allen Plätzen und Hubschrauber in der Luft. Und wir hätten längst Sondereinheiten der Polizei und Spezialstaatsanwaltschaften, wenn wir weit über 100 Todesopfer linker Extremisten oder Islamisten in den vergangenen 20 Jahren zu verzeichnen hätten. Da wird seit Jahren so getan, als seien das alles Einzelfälle. Jahrelang haben die Behörden so getan, als seien sie Opfer „milieuspezifischer“ Taten. Noch immer sprechen manche Medien von „Döner-Morden“, das ist unsäglich. Die Mordserie galt nicht nur den zehn Getöteten, sondern unserer ganzen Gesellschaft. Wir müssen das Umfeld, in dem rechte Gewalt gedeiht, trocken legen. Und wir brauchen wir schnell umfassende Aufklärung über diese Mordserie. Es ist ja unfassbar: Da wird 13 Jahre lang eine Blutspur durch Deutschland gezogen – und Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz haben keine Ahnung oder wissen ein bisschen etwas, aber tun nichts. Das ist eine große Schande für unser Land.
"Der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit wird nur vor Ort gewonnen"
Brauchen wir einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss?
Gabriel: Das wird man sehen. Ohne schnelle Aufklärung, ob dort geschlampt wurde oder Taten sogar geduldet wurden, wächst jedenfalls das Misstrauen in die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats. Und vor allem sind wir das den Angehörigen der Opfer schuldig. Mir ist aber noch etwas anderes wichtig: Rechtsextremismus bekämpft kann man allein durch Verbote, Polizei und Verfassungsschutz nicht wirksam bekämpfen. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist es, die Bindekräfte in unserer Gesellschaft zu stärken. Wo Jugendeinrichtungen geschlossen werden, Sport und Vereine keine ausreichende Förderung mehr erhalten, soziale Dienste und soziale Einrichtungen ebenso verschwinden wie Theater und Freizeitangebote und wo die Stadtteile und Dörfer verwahrlosen, da öffnen sich Räume für die Rattenfänger der Rechten. Wenn die NPD schon anbietet, Kindergärten und Jugendzentren zu übernehmen, weil die betroffene Kommune kein Geld mehr dafür hat, müssen wir doch aufhorchen. Wir dürfen keine sozial entkernten Räume zulassen, weil das Vakuum zunehmend von Rechtsradikalen gefüllt wird.
Was fordern Sie?
Gabriel: Wir müssen unsere Städte und Gemeinden endlich wieder finanziell so ausstatten, dass sie sozial und kulturell stark sind. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit wird nur vor Ort gewonnen und nicht in den Bundestagsdebatten. Und es ist eine himmelschreiende Dummheit, dass CDU/CSU und FDP ausgerechnet die Finanzmittel für Initiativen und Gruppen, die sich gegen den Rechtsradikalismus engagieren, gerade wieder zusammen gestrichen haben.
Zum CDU-Parteitag: Freut Sie oder ärgert Sie die Sozialdemokratisierung der CDU?
Gabriel: Wenn die CDU sich wirklich sozialdemokratisieren würde, wäre ich natürlich froh darüber, denn dann wäre es leichter in Deutschland wieder für mehr Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zu tun. Aber was wir erleben sind ja leider nur taktische Wenden. Angela Merkel setzt immer nur auf Taktik, ob bei der Atomenergie, bei der Wehrpflicht oder beim Euro. Ich ahne schon, worauf das hinaus läuft: wir Sozialdemokraten müssen ab 2013 nach Frau Merkel die Aufräumungsarbeiten durchsetzen.
"Ich glaube gern, dass Frau Merkel die FDP loswerden möchte."
Die CDU will jetzt den Mindestlohn...
Gabriel: Dass die CDU nach zehn Jahren Widerstand jetzt überhaupt über Mindestlohn diskutiert, ist ein Riesenerfolg für SPD und Gewerkschaften. Nur: Beim Mindestlohn geht es darum, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht hinterher zum Sozialamt gehen müssen - aber die CDU hat das Gegenteil beschlossen. Frau Merkel versteht nicht, worum es bei Mindestlohn geht: um den Wert und die Würde der Arbeit. Darum, dass sich Anstrengung und Leistung lohnen muss. Und dass es unwürdig ist, wenn jemand Vollzeit arbeitet, der Lohn aber für die Miete nicht reicht und er deshalb trotz Arbeit noch Hartz IV beantragen muss. Der CDU-Mindestlohn will daran nichts ändern und ist ein substanzloser Formelkompromiss, der Armutslöhne weiter ermöglicht. Deshalb ist das eine große Niederlage für den CDU-Arbeitnehmerflügel. Das ist bitter – ein echter Mindestlohn wäre ein großer Erfolg für Millionen Menschen gewesen. Und zu alledem kommt, dass mit der FDP nicht mal der CDU-Vorschlag umgesetzt wird.
Man kann dennoch den Eindruck haben, Frau Merkel bereite mit ihrer Wendung eine Große Koalition vor.
Gabriel: Ich glaube gern, dass Frau Merkel die FDP loswerden möchte. Aber erstens muss man eine Ehe erst scheiden, bevor man eine neue schließt. Und zweitens kann ich mir schlecht vorstellen, mit dieser CDU in nächster Zeit nochmal zusammenzuarbeiten. Dafür unterscheidet uns gesellschafts- und finanzpolitisch zu viel. Wie soll man mit einer Partei regieren, die es fertig bringt, Eltern Betreuungsgeld dafür anzubieten, dass ihre Kinder schlechter gebildet werden? Oder die nächstes Jahr die Schulden steigen lässt, obwohl die Steuereinnahmen steigen? Das mag ich mir nicht ausmalen.
Eine endgültige Absage an die Große Koalition ist das nicht. Hält die SPD so ein Bündnis überhaupt nochmal aus, gar als Juniorpartner?
Gabriel: Wir wollen keine Große Koalition. Wir haben eine klare Option für eine gemeinsame Regierung mit den Grünen und eine gute Chance, dafür eine Mehrheit zu bekommen. Ich rechne damit, dass wir 2013 einen Richtungswahlkampf bekommen werden. Es wird um die neue soziale Frage gehen: Demokratie oder Herrschaft der Finanzmärkte. Und es wird darum gehen, ob wir unser Gemeinwesen wieder in Ordnung bekommen und dazu zählt auch, ein gerechteres Steuersystem zu entwickeln. Auf beiden Feldern ist die CDU nach wie vor viel näher an der FDP als an uns.
"Wir können von den Piraten lernen"
Demokratie statt Finanzmarkt-Herrschaft - was heißt das konkret?
Gabriel: Wir brauchen endlich eine Besteuerung der Börsengeschäfte – zur Not erst mal nur in der Eurozone – und ein Verbot gefährlicher Finanzprodukte. Da hat die Regierung versagt und tut es weiterhin. Nichts von dem, was unter dem SPD-Finanzminister Peer Steinbrück entwickelt wurde, hat Frau Merkel nach der letzten Bundestagswahl angepackt. Und wir brauchen eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU, die eben nicht nur auf Sparen setzt. Natürlich müssen wir Schulden abbauen. Auch in Deutschland. Deshalb ist es ja auch abenteuerlich, dass Frau Merkel gerade zusätzliche Schulden machen will, obwohl wir höhere Steuereinnahmen haben. Insgesamt braucht Europa aber auch eine Wachstumsperspektive. Um das zu bezahlen, brauchen wir die Einnahmen aus der Besteuerung der Finanzmärkte. Für all das benötigen wir eine neue, eine bessere Europäische Union. Mit wirksamen Schuldenbremsen ebenso wie mit einer echten demokratischen Kontrolle. Das EU-Parlament muss zu einem echten Parlament werden, das auch die EU-Kommission wählt. Wir müssen dazu vermutlich die europäischen Verträge und vielleicht sogar das Grundgesetz ändern – und am Ende sollten wir die Bürger über solche grundsätzlichen Fragen abstimmen lassen. Europa als Eliteprojekt ist an sein Ende gekommen. Wir müssen Europa wieder vom Kopf auf die Füße stellen.
Die Erfolge der Piratenpartei oder der Occupy-Bewegung müssten Sie da ja freuen. Was lernen Sie von denen?
Gabriel: An den Piraten schätze ich, dass sich die Leute bei aller Unzufriedenheit in der parlamentarischen Demokratie engagieren wollen. Wir können von ihnen in Sachen Transparenz und Hierachiefreiheit lernen, inhaltlich sind die ja selbst in vielen Fragen noch unsicher. Für die Occupy-Bewegung habe ich große Sympathie: Globalisierung darf nicht mehr Reichtum für wenige bedeuten, sondern muss Gerechtigkeit für alle bringen. Aber deren Forderung nach einem Systemwechsel macht mich misstrauisch: Ich sehe keine Alternative zur parlamentarischen Demokratie – ergänzt durch plebiszitäre Elemente wie Volksabstimmungen auch auf Bundesebene. Und ich halte nichts davon, die Marktwirtschaft durch Staatswirtschaft zu ersetzen. Aber wir müssen das Primat der Politik zurückerobern und klarere Spielregeln schaffen.
Mehr Beteiligung der Bürger - das machen die französischen Sozialisten jetzt bei der Vorwahl des Präsidentenkandidaten vor. Ein Vorbild für die SPD?
Gabriel: Die SPD beschließt ja jetzt eine Organisationsreform, mit der solche Vorwahlen möglich sind, aber niemand gezwungen wird, sie zu machen - denn im Moment haben viele Mitglieder noch Vorbehalte, auch wenn es gute regionale Erfahrungen damit gibt. Vorwahlen werden sich in den nächsten Jahren mehr und mehr durchsetzen. Es wird eine mobilisierende Wirkung in der Demokratie haben.
Wenn wir gerade bei der Kandidaten-Auswahl sind. Spielen Sie eigentlich Schach?
Gabriel: Nee, Skat.
Und das Buch mit Ihren Skatbrüdern ist schon in Vorbereitung?
Gabriel: Nein, nein.
Herr Schröder empfiehlt der SPD aber, den Kanzlerkandidaten jetzt schon festzulegen. Hat er Recht?
Gabriel: Schröder ist erst sechs Monate vor seinem Wahlsieg Kanzlerkandidat geworden. Da liegen wir mit unserem Plan, das Ende 2012, Anfang 2013 festzulegen, noch deutlich vor ihm...
"Vielleicht haben wir bald wieder mehr Mitglieder als die CDU"
Wie fanden Sie den Auftritt von Steinbrück und Schmidt bei Jauch?
Gabriel: Nach dem Tatort mache ich sonntags den Fernseher aus. Das Spiegel-Interview habe ich aber natürlich gelesen. Der SPD hat der Auftritt von Helmut Schmidt und Peer Steinbrück sicher gut getan.
Hat Steinbrück jetzt einen Vorsprung bei der Kanzlerkandidatur?
Gabriel: Die SPD ist in dieser Frage ganz gelassen. Wer Spitzenkandidat wird, bewegt die Medien, aber nicht die ganz normalen Menschen. Die haben gegenwärtig wirklich andere Sorgen. Bis zur Wahl dauert es noch. Niemand weiß, was 2013 für Themen im Vordergrund stehen, auch davon hängt ab, wen wir nehmen werden.
Für Sie steht in zwei Wochen der Parteitag an. Wie ist Ihre Bilanz nach zwei Jahren als Vorsitzender?
Gabriel: Das müssen Sie am besten andere fragen. Aber wenn man bedenkt, was der SPD nach der Wahlniederlage 2009 alles vorhergesagt wurde, haben wir alle Pessimisten enttäuscht. Dass wir zwei Jahre danach eine stabile Partei haben, in Umfragen bei 30 Prozent liegen, ist ein erstaunliches Ergebnis. Das liegt natürlich auch daran, dass die Regierung so grottenschlecht ist. Aber wir haben in vielen Fragen unser Profil geschärft, ohne 180-Grad-Wenden zu unserer Regierungszeit zu vollziehen. Wir laufen keiner anderen Partei hinterher. Wir haben in acht Landtagswahlen achtmal die Regierungsbeteiligung erreicht und wir führen in sechs dieser Länder die Regierung mit einem SPD-Regierungschef an. Das ist eine ganz gute Zwischenbilanz.
Wie entwickeln sich die Mitgliederzahlen?
Gabriel: Die entwickeln sich gut, vor allem durch Niedersachsen. Da haben wir derzeit viele Eintritte von Menschen, die mitentscheiden wollen, wer der Spitzenkandidat der SPD zur Landtagswahl wird. Vielleicht werden wir zum Parteitag wieder mehr Mitglieder haben als die CDU.
Was hat Sie im Amt am meisten überrascht?
Gabriel: Dass bei uns trotz mancher strittiger Debatten die Geschlossenheit so schnell gewachsen ist. Das ist für eine Partei in den ersten Oppositionsjahren nicht selbstverständlich. Und überrascht hat mich auch, dass CDU/CSU und FDP so schlecht sind und – bis auf ganz wenige Ausnahmen - nicht einmal ihr Alltagshandwerk beherrschen. Das hätte ich nicht gedacht.