Köln. . Seit 60 Jahren arbeitet der Geheimdienst mit dem Auftrag, die demokratische Verfassung der Bundesrepublik zu schützen. Jetzt werden die Anfangsjahre mit ihren vielen Ex-Nazis in Führungspositionen endlich aufgearbeitet.
SS-Standartenführer Walther Rauff hat die „Gaswagen“ entwickelt – auf Lkw deponierte mobile Todeszellen, in denen später Juden und politische Häftlinge der Nazis in Riga, Chelmno und Poltawa durch Autoabgase erstickt wurden. Sie waren die technischen Vorläufer der Gaskammern in den Vernichtungslagern. Die Karriere des Dessauers beförderte das nur. Bis Kriegsende konnte er als Kommandeur in Italien Partisanen verfolgen und töten.
Doch seit diesem Wochenende weiß die Welt noch mehr über den Mann, der 1962 in Chile wegen 90 000-fachen Mordes verhaftet, aber nach wenigen Monaten wegen Eintritt der Verjährung wieder freigelassen wurde. Rauff, so ergibt sich aus den im Auftrag von Bundesnachrichtendienst-Chef Ernst Uhrlau aufgearbeiteten Akten des deutschen Auslandsgeheimdienstes, war von 1958 bis zum Zeitpunkt seiner Festnahme in Punta Arenas auch Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND). Sein Auftrag: Kubas Revolutionsführer Fidel Castro auszuspionieren.
Was die Anstellung besonders pikant macht: Die Pullacher Zentrale wusste von dem SS-Vorleben des Mitarbeiters. Mehr noch: Im chilenischen Gefängnis erhielt der Mann den letzten Dienstbefehl, den Mund über seine BND-Tätigkeit zu halten. Rauff befolgte ihn bis zu seinem Tod 1984.
Zugang zu allen Geheimunterlagen
Deutschlands Sicherheitsbehörden und Polizeiorganisationen arbeiten 60 Jahre nach ihrer Gründung Anfang der 50er-Jahre ihre eigene Vergangenheit mit vorher nicht gekanntem Eifer auf. Aktenbestände werden geöffnet. Historiker werten sie aus. Sie haben die Zusage, dass ihnen nicht ins Handwerk gepfuscht wird. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass noch mehr Fälle wie der des früheren SS-Standartenführers Walther Rauff ans Licht kommen.
Gestern erklärte der Chef des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, seine Vorstellung, binnen drei Jahren die „NS-Bezüge“ derjenigen Verfassungsschützer aufzuklären, die zwischen 1950 und 1975 an leitender Stelle gearbeitet hatten. Die Forscher Konstantin Goschler und Michael Wala vom Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum, erhalten dafür Zugang zu allen Geheimunterlagen und den Personalakten des Kölner Bundesamtes, so weit sie noch aufzutreiben sind. Sie werden sich die Bestände alliierter Archive und der Stasi-Unterlagenbehörde anschauen. Wala rechnet mit „vielleicht 200“ Lebensläufen, die sein Team durchleuchten wird.
33 von 47 mit SS-Vergangenheit
Goschler geht, was die Geheim- und Sicherheitsbehörden der jungen Bundesrepublik betrifft, von einer „hohen personellen Kontinuität nach der NS-Zeit“ aus. Auch das Bundeskriminalamt hatte das bereits erfahren, als es nach dem Willen seines aktuellen Präsidenten Jörg Ziercke nachforschen ließ. Nicht nur, dass in den 50er-Jahren alte Kameraden mit dem Wortschatz der Nazi-Zeit nach „Zigeunern“ fahnden ließen, die „in Sippen und Herden“ lebten und „ausgeprägt arbeitsscheu“ sein sollten. Auch waren 33 der 47 Chefs ehemalige SS-Dienstgrade. Nach einem, Paul Dickkopf, ist heute noch die Straße vor der Meckenheimer Außenstelle des Bundeskriminalamtes (BKA) benannt.
Späte Aufarbeitung
Überraschungen können also auch Wala und Goschler erleben. Zwar seien sie nicht „der Spitze des Eisbergs“ auf der Spur, sondern „dem Eisberg“. Im Klartext: Es geht nicht nur um Aufsehen erregende Entdeckungen, sondern es sollen auch die Strukturen des Verfassungsschutzes nach Resten der Dritten-Reich-Zeit untersucht werden.
Aber Kritiker einer über Jahrzehnte dauernden mangelnden Aufklärung haben bereits Vorgänge enttarnt. So war offenbar der Beschaffer des Todesgiftes Zyklon B in Dachau und Auschwitz in der neuen Bundesrepublik für den Schutz ihrer demokratischen Ordnung mit verantwortlich.
Warum das alles erst jetzt, 60 Jahre danach, ans Tageslicht kommt? Weil von den Betroffenen keiner mehr lebt? Verfassungsschutzchef Heinz Fromm sagt, er wisse das nicht: „Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif. Aber besser jetzt als gar nicht.“