Essen. . Angela Merkel rief im Mai 2010 das Primat der Politik über die Finanzmärkte aus. Aber ein gutes Jahr später gilt mehr denn je das Primat der Märkte. Wer es brechen will, braucht schwere Geschütze. Eine Analyse.

Als Angela Merkel im Mai 2010 das Primat der Politik über die Finanzmärkte ausrief, hatte die Griechenland-Krise gerade begonnen. Was ihr folgen würde, dass weitere Länder ins Visier der Spekulanten geraten, dass bloße Gerüchte ganze Länder und Banken ins Wanken bringen sollten – all das befand sich damals außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Politiker. Heute werden sie von den hektischen Ausschlägen der Finanzplätze von Krisengipfel zu Krisengipfel getrieben. Es gilt, mehr denn je, das Primat der Märkte. Und wer es brechen will, braucht scharfe Geschütze statt Worthülsen.

Fallende Märkte überhören Beschwichtigungen. Den letzten Beweis lieferten die Wettattacken auf Frankreich und seine Banken. Erst das Gerücht, Frankreich verliere seine Bestnote bei der Kreditwürdigkeit, dann der Alarm, der Bank Société Générale gehe es schlecht: Beide wurden hartmöglichst dementiert. Allein das juckte die Spekulanten nicht. Investmentbanker ließen sich sinngemäß zitieren, der Wahrheitsgehalt eines Gerüchts sei ab einem bestimmten Punkt egal.

Auch mit fallenden Kursen lässt sich Geld verdienen

Aus ihrer Sicht ist das leider wahr. Geht der Kurs einer Aktie oder der Zins einer Staatsanleihe mit Macht in eine bestimmte Richtung, wäre es für jeden Investmentbanker oder Vermögensverwalter fahrlässig, nicht mitzuschwimmen. Denn auch mit fallenden Kursen lässt sich gutes Geld verdienen. Dieses Rudelverhalten ist aus Anlegersicht vollkommen rational, selbst wenn die Gerüchte irrational sind. Verstärkt wird der Abwärtssog durch Computer, die ganz von allein auf Marktbewegungen reagieren und ihre Besitzer davor bewahren, einen Zug zu verpassen. Und ein talwärts rasender Zug wird mit jedem Trittbrettfahrer schneller.

Diese Marktmechanismen kann man verurteilen, aufhalten kann man sie kaum. Einige europäische Länder versuchen es mit dem Verbot einzelner Instrumente, etwa von Leerverkäufen. Doch die Finanzwelt hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Politik: Sie funktioniert global nach den gleichen Regeln, die Politik in jedem der knapp 200 Länder anders. Die seit der Lehman-Pleite viel beschworene weltweite Regulierung der Finanzmärkte hat nicht stattgefunden. Sonst wären die Kursausschläge diesmal nicht noch heftiger als in der Finanzkrise 2008/2009.

Das Kasino lässt sich noch aus einem anderen Grund nicht einfach schließen: In ihm wird nämlich keinesfalls immer nur aus Gier gezockt. So sichern sich Rentenfonds mit Termingeschäften gegen fallende Kurse ab – zum Wohle von Betriebsrentnern und Beschäftigten. Konzerne, die mit Rohstoffen wie Stahl oder Gas arbeiten, sichern sich gegen Preisschwankungen ab – andernfalls müssten ihre Kunden noch mehr zahlen. Verböte man weltweit alle Finanzwetten – es hätte nicht nur die erwünschten Folgen. Doch wer soll unterscheiden zwischen guten und bösen Wetten?

Eine Schuldenbremse braucht Einigkeit

Wenn also Europa das Kasino nicht schließen kann, muss es sowohl den Gerüchten als auch berechtigten Abwertungen den Boden entziehen. Merkel und Sarkozy setzen auf eine europaweite Schuldenbremse. Gute Idee, doch dafür bedürfte es jener Einigkeit, die Helmut Schmidt seit drei Jahrzehnten vermisst. Ohne die bliebe auch eine Wirtschaftsregierung wirkungslos, die nur einstimmige Entscheidungen treffen kann.

Die Finanzmärkte sind gegen derlei Ankündigungen immun. Das einzige, was sie beruhigen könnte, wäre ein neuer Stabilitätspakt. Einer, der nicht von Menschen aufgeweicht werden kann.

Schuldensünder müssten, so wie Merkel bisher vergeblich fordert, automatisch bestraft werden. Wenn man so will, traut der computergesteuerte Finanzmarkt nur einem computergesteuerten Stabilitätspakt. Das ginge so: Wer zu viele Schulden aufnimmt, bekommt als Auflage, die vom Computer errechnete Summe X im nächsten Haushalt einzusparen. Ob mit Sozialkürzungen oder Steuererhöhungen, bleibt dann seine Sache.

17 Länder, 17 Regierungen

Einem derart drastischen Schritt steht freilich die Demokratie im Wege. Es gibt 17 Euro-Länder mit 17 Regierungen, 17 Oppositionen und 17 Parlamenten. Die armen Länder wollen nicht automatisch bestraft werden. Und die reichen wollen keine Eurobonds, also gemeinsame Kredite, weil sie dann höhere Zinsen zahlen müssten. Das ändert sich nicht dadurch, dass sich alle Regierungschefs, wie von Merkel und Sarkozy vorgeschlagen, zweimal im Jahr treffen. Ob sie das nun Wirtschaftsregierung nennen oder nicht.

Dass jedes Parlament mitreden dürfen muss, wie Bundestagspräsident Lammert reklamiert, stimmt ja. Nur: Die Eigenständigkeit der europäischen Partner könnte am Ende ihre Gemeinschaftswährung zerstören. Es ist kein Zufall, dass der straffe Staatskapitalismus Chinas von den Turbulenzen wenig spürt. Er ist kein Vorbild für das freiheitliche Europa. Aber eine Mahnung, dass ein Wirtschaftsraum Entscheidungskraft braucht, um sich gegen Spekulanten wehren zu können.