Essen. . Ein Opfer von Polizeigewalt – und schon brechen Unruhen aus. So war es in Los Angeles, Paris, Athen und London. Ein Soziologe erklärt den Vorgang und sagt, ob auch Deutschland sich Sorgen machen muss.

Das Telefon wollte gar nicht stillstehen gestern bei Wilhelm Heitmeyer in Bielefeld. Heitmeyer leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der dortigen Uni, und von Leuten wie ihm erwartet man, dass sie am Tag vier der britischen Krawalle folgende Frage beantworten können: Ist so etwas auch in Deutschland möglich?

Denn die Bilder, sie ähneln sich ja: 1992 brannte es in Los Angeles, 2005 in Paris, 2008 in Athen – und jedes Jahr zum 1. Mai, da brennt es schließlich auch bei uns.

Seht, wie sie uns behandeln!

Heitmeyer überlegt. Die ­genannten Beispiele zeigen: Damit es zum Aufruhr kommt, muss ein Ereignis eintreten, das den „Desintegrations­hin­tergrund beleuchtet“, wie Heitmeyer sagt. Eine Gruppe fühlt sich von der Polizei diskriminiert? Dann reicht ein einzelner aufsehenerregender Polizeiexzess, um die Empörten auf die Straße zu treiben. Seht, wie sie uns behandeln! Es gab so etwas in L.A., Paris, Athen und London, in Deutschland nicht. (Man denkt vielleicht an den erschossenen Studenten Benno Ohnesorg, aber das war 1967.)

Nun kann es aber schon morgen passieren, dass deutsche Polizisten in einem typischen Migrantenviertel, vielleicht im Ruhrgebiet, aus Versehen einen jungen Araber oder Türken erschießen. Doch auch dann rechnet Heitmeyer nicht mit britischen Szenen. „Denn das Wutniveau, der Rassismus und der Hass auf die Polizei ist in Deutschland bei Weitem nicht so aus­geprägt.“ Der Soziologe führt das auf eine im Ganzen bessere Integration zurück, auf eine zurückhaltendere Polizei, auch auf eine bessere Stadt­planung: „Im Vergleich zu ­Millionenstädten wie L.A., ­Paris oder London“, sagt Heitmeyer, „fehlt in unseren Stadtvierteln ganz einfach die kritische Masse an Leuten, die nichts zu verlieren haben.“

Polizeigewerkschafter warnt vor der „explosiven Mischung“

Deutschland ist zweigeteilt am Tag vier der britischen ­Krawalle. Verschiedene Wissenschaftler stimmen Heitmeyer zu. Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) beruhigt. Doch der Polizeigewerkschafter Rainer Wendt warnt vor einer „ähnlich explosiven Mischung“ und verweist auf die Krawalle von Hamburg und Berlin am 1. Mai.

Rituale, sagt Heitmeyer ­dazu, Rituale voller Lust auf Gewalt – aber im Gegensatz zu London fehle dabei jede Spur von Verzweiflung.

Los Angels 1992:

Im März 1991 wird der betrunkene Autofahrer Rodney King nach einer Verfolgungsjagd von Polizisten verprügelt. King: ein Schwarzer. Die Polizei: drei Weiße, ein Latino. Das Fernsehen hat’s auf Video. Ende April 1992 spricht ein Gericht (weiße Geschworene) die Polizisten frei. Am selben Tag eskaliert eine Demo von Schwarzen gegen die ­Justiz: Im Problemkiez South Central werden (asiatische) Läden ­geplündert, Autos und 800 Häuser angezündet. Und es wird geschossen. Bis zum 3. Mai sterben 53 Menschen.

Die Polizei ist überfordert; Nationalgarde, Army und ­Marines rücken an. Das Skandal-Urteil wird 1993 revidiert: Haftstrafe für zwei Polizisten.

Frankreich 2005:

An brennende Autos ist man hier längst gewöhnt, als im Oktober 2005 im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois zwei Jugendliche an Stromstößen sterben. Sie haben sich vor der Polizei in eine Trafostation geflüchtet. Es sind Kinder arabischer Einwanderer. 20 Nächte in Folge gibt es Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Betroffen sind erst die Pariser Vorstädte, dann erfasst die Gewalt die Provinz. Zwei Menschen sterben.

Innenminister Sarkozy gießt noch Öl ins Feuer, spricht von „Abschaum“, den man „wegkärchern“ müsse. Mitte Dezember wird über ­einige Städte der Ausnahmezustand verhängt – zum ersten Mal in Frankreich.

Athen 2008:

Bei einem Zusammenstoß zwischen Autonomen und der Polizei im Alternativen-Stadtteil Exarchia im Dezember 2008 stirbt der 15-jährige ­Alexandros Grigoropoulos durch eine Polizeikugel – ein Grieche aus gutem Hause.

Autonome demolieren ­immer mehr Geschäfte, Banken und Autos, verletzen Polizisten. Bis Februar kommt es in Athen und anderen Städten zu Straßenschlachten, Plünderungen und Bombenanschlägen. Auch später flammen die Unruhen wieder auf. 2010 sterben drei Angestellte in einer brennenden Bank.

Die Justiz ahndet die Tötung Grigoropoulos’ als Mord – ein Polizist bekommt Lebenslänglich, sein Kollege zehn Jahre.

London 2011:

Am 4. August erschießen Polizisten den 29-jährigen Mark Duggan. Zwei Tage später ­eskaliert eine Demonstration vor einem Polizeirevier im Stadtteil Tottenham – sie fordern Aufklärung über den Tod des dunkelhäutigen Gang-Mitgliedes und Familienvaters. Es gibt Plünderungen, Brandanschläge auf Fahrzeuge und Gebäude – zuerst in Tottenham, dann in anderen Vierteln. Die Polizei ist viel zu schwach. Erst als in der dritten und vierten Nacht die Kräfte konzentriert werden, kehrt Ruhe ein – dafür brennen andere Städte. Es gibt mindestens drei Tote.

Sechs Tage nach Duggans Tod gibt die Polizei zu, dass er, entgegen früheren Angaben, nicht geschossen hat.