Ankara. . Der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan hat sich durchgesetzt, das Militär ist entmachtet. Eine EU-Vollmitgliedschaft braucht das Land nicht. Eine Analyse

Nur noch das Kabinett muss diese Woche zustimmen, dann ist die Wachablösung an der Spitze der türkischen Streitkräfte vollzogen. Das Votum des Ministerrats ist eine Formalität, besiegelt aber zugleich eine Zeitenwende. Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist gelungen, was kein anderer türkischer Regierungschef schaffte: Er hat die Armee besiegt.

Mit den Rücktritten der vier Top-Generäle kapitulierte vor zehn Tagen die Führung des türkischen Militärs. Bis vor wenigen Jahren hatten die Generäle in der Politik stets das letzte Wort. Erdogan konnte die Streitkräfteführung neu besetzen – mit Offizieren seines Vertrauens. Damit öffnet sich für ihn der Aufstieg an die Staatsspitze: 2014 will er die Nachfolge des Präsidenten Gül antreten.

Erdogans Sieg über die Generäle ist ein tiefer Einschnitt in der 88-jährigen Geschichte der türkischen Republik. Seit den Tagen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der selbst General war, spielten die Streitkräfte eine Sonderrolle. Die Armee sah sich als Wächter über die weltliche Staatsordnung des Landes. Vier gewählte Regierungen hat sie in den vergangenen 50 Jahren gestürzt. Zuletzt hebelten die Generäle 1997 den islamistischen Premier Necmettin Erbakan aus dem Amt, Erdogans politischen Mentor.

Wie demokratisch ist die neue Türkei?

In den vergangenen acht Jahren ist es Erdogan gelungen, den Einfluss der Militärs immer weiter zurückzudrängen. Dabei konnte er sich nicht zuletzt auf die Forderungen der EU nach demokratischen Reformen berufen. Sicher ist die Entmachtung der türkischen Militärs ein Schritt zur Demokratisierung des Landes. Aber wie demokratisch wird Erdogans neue Türkei sein? Das hängt nicht nur von der künftigen Rolle der Streitkräfte ab. Internetzensur und Repressionen gegen kritische Journalisten werfen dunkle Schatten auf die Ära Erdogan. Erdogans Pläne für eine Präsidialverfassung, die ihm als nächstem Staatsoberhaupt erheblich erweiterte Machtbefugnisse geben soll, alarmieren die Opposition. Weltlich orientierte Türken fragen sich besorgt, ob sie in Erdogans neuer Türkei künftig nach den Regeln des Islam leben müssen.

EU-Beitritt ist vielen Türken egal

Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, den EU-Integrationsprozess am Leben zu erhalten. Denn er war in den vergangenen Jahren der stärkste Reformantrieb. Doch viele Europäer zeigen der Türkei inzwischen die kalte Schulter. Auch in der Türkei ist die Europa-Euphorie einer Ernüchterung gewichen. Nur noch 38 Prozent der Bevölkerung sind für den Beitritt, halb so viele wie vor sechs Jahren. Immer mehr Türken fragen sich, ob sie überhaupt in den europäischen Klub wollen. Denn der taumelt von einer Krise in die nächste. Dagegen verzeichnet die Türkei einen Wirtschaftsboom, der sie im ersten Halbjahr 2011 zum globalen Wachstums-Champion machte, noch vor China. Zumindest wirtschaftlich braucht die Türkei die EU-Vollmitgliedschaft gar nicht.

Politisch aber bleibt das Ziel einer engeren europäischen Integration des Landes wichtig. Das sollten gerade jene bedenken – und das sind nicht wenige in der Türkei –, die bisher in den Militärs einen Garanten der weltlichen Staatsordnung sahen. Eine Wächterrolle wie die Generäle kann und will die EU für die Türkei nicht spielen. Aber sie kann den Prozess der Demokratisierung des Landes konstruktiv begleiten. Denn der ist noch längst nicht vollendet, trotz der Entmachtung der Generäle.