Berlin. . 10 680 Tage, 28 Jahre von 1961 bis 1989, war Deutschland durch Mauer und Stacheldraht getrennt – eine tödliche Grenze. Hunderte von Flüchtlingen wurden erschossen. Hubertus Knabe, Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kritisiert: Die Verantwortlichen wurden nie bestraft

10 680 Tage, 28 Jahre von 1961 bis 1989, war Deutschland durch Mauer und Stacheldraht getrennt – eine tödliche Grenze. Hunderte von Flüchtlingen wurden erschossen. Hubertus Knabe, Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kritisiert: Die Verantwortlichen wurden nie bestraft.

Sind Grenzverbrechen und der DDR-Umgang mit gefassten Flüchtlingen geahndet worden?

Hubertus Knabe: Nein, nur sehr unzureichend. Beim Versuch zu fliehen wurden Hunderte DDR-Bürger verletzt oder getötet. Über 70 000 Menschen kamen in Haft. Es ist ein Trauerspiel, dass sich für all dies kaum jemand verantworten musste.

Aber Verantwortliche kamen nach der Einheit vor Gericht.

Ja schon, aber fast immer gab es Freisprüche oder Bewährungsstrafen. Viele Anklagen wurden auch gar nicht erst zugelassen. Wer an der Grenze jemanden zum Krüppel schoss, wurde nicht belangt. Auch die, die die Flüchtlinge verhört, angeklagt oder verurteilt haben, blieben in der Regel straffrei. Nur die, die einen Flüchtling getötet haben, wurden verurteilt – fast immer zu Bewährungsstrafen. Das heißt, sie verließen den Gerichtssaal als freier Mann.

Welche Rolle spielte der Schießbefehl? Gab er eine eindeutige Beweislage her?

Die Beweislage war nicht das Problem – auch wenn die Geschichte des Schießbefehls kompliziert ist. Die gesetzlichen Grundlagen wurden mehrfach geändert. Vieles wurde zudem nur mündlich übermittelt. So wurden die Angehörigen der Grenztruppen täglich vergattert nach dem Motto: „Ein toter Flüchtling ist besser als ein erfolgreicher“. So, wie es keinen zentralen Befehl Hitlers zur Vernichtung der Juden gab, gab es auch keinen zentralen Befehl Ulbrichts oder Honeckers, an der Grenze Flüchtlinge abzuschießen. Trotzdem konnte bei den Prozessen zweifelsfrei belegt werden, dass es einen Befehl zum Schießen gab.

Was vor allem behindert die Aufarbeitung des Unrechts?

Viele Täter haben sich, wie nach dem Nationalsozialismus, auf den Befehlsnotstand berufen. „Wir mussten so handeln“, hieß es – obwohl man sehr wohl daneben schießen konnte. Hinzukam, dass nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik das Rückwirkungsverbot auch für ehemalige DDR-Bürger galt. Man hat gesagt, was zu DDR-Zeiten nicht strafbar war, kann heute nicht bestraft werden. Um das zu umschiffen, hätte man das Grundgesetz ändern müssen. Denn es kann nicht sein, dass die Verantwortlichen für schwere Verbrechen dadurch straffrei ausgehen. Doch dafür fehlte der politische Wille. Nur, wenn es Tote an der Grenze gegeben hatte, hat die Rechtsprechung eine Ausnahme gemacht.

Es werden unterschiedliche Opfer-Zahlen genannt. Ist nicht bekannt, wie viele an der Grenze umkamen?

Nein. Diese wichtige Frage ist bisher leider nicht geklärt. Wenigstens 270 Menschen wurden nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft an den Westgrenzen der DDR durch Schüsse oder Minen nachweislich getötet. Viele kamen aber auch in anderen Ostblockstaaten ums Leben, als sie versuchten, von dort in den Westen zu flüchten. Andere wieder sind ertrunken, als sie über die Ostsee fliehen wollten. Man schätzt, dass über 1000 Menschen durch das DDR-Grenzregime ums Leben kamen. Es ist höchste Zeit, dies solide zu recherchieren.

Kennen Sie Fälle, in denen ein Ermittlungsverfahren heute noch lohnend wäre?

Dazu müsste man noch einmal sehr gründlich alle Verdachtsmomente prüfen. Ich selbst hatte im vergangenen Jahr die Staatsanwaltschaft aufgefordert, den Fall des geflüchteten DDR-Fußballers Lutz Eigendorf noch einmal zu untersuchen. Er war ja nach seiner Flucht in den Westen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bei einem Prozess in Düsseldorf erklärte 2010 ein ehemaliger Stasi-Informant überraschend, er habe damals den Auftrag erhalten, Eigendorf umzubringen. Auch in den Stasi-Akten finden sich einige Hinweise darauf. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren jedoch nicht wieder aufgenommen, weil der ehemalige Informant erklärte, er habe den Auftrag nicht ausgeführt.