Essen. . Machthaber stemmen sich erfolgreich gegen die Freiheitswelle, die vor rund einem halben Jahr in Tunesien und Ägypten begann. Wie geht es weiter? Eine Zwischenbilanz.
Innerhalb von Wochen stürzten Massenproteste in Tunesien und Ägypten zwei Diktatoren. Die Arabischer Frühling genannte Revolutionsbewegung erfasste danach weitere Länder. Doch rund sechs Monate nach der Euphorie ist Ernüchterung eingekehrt. Den Machthabern ist es gelungen, nicht wie die Herrscher in Tunis und Kairo von der Freiheitswelle davongespült zu werden. Eine Übersicht.
Ägypten
Die Bürger dort können im September das erste Mal seit dem Sturz von Husni Mubarak demokratische wählen gehen. Bis dahin hat der Militärrat Essam Sharaf an die Spitze der Regierung gesetzt. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gab es zuletzt immer wieder Proteste, bei denen es auch wieder zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kam. Erst am Freitag haben sich wieder hunderttausende auf dem „Platz der Freiheit“ versammelt. Die Demokratie-Aktivisten verlangen ein energischeres Vorgehen der Justiz gegen Vertraute von Mubarak.
Tunesien
Die Lage in Tunis ist unübersichtlich. Mittlerweile haben sich zwar rund 90 politische Parteien gegründet und die frühere Einheitspartei RDC von Präsident Ben Ali wurde ebenso aufgelöst wie die berüchtigte Geheimpolizei: zufrieden sind viele Tunesier dennoch nicht. Besonders beklagt wird, dass viele der alten Strippenzieher weiterhin die Fäden in der Hand behalten. Bis zu den ersten freien Wahlen im Oktober führt Fouad Mebazaâ die Übergangsregierung mit Unterstützung des Militärs. „In Tunesien und Ägypten war der Sturz der Diktatoren der erste Schritt. Was jetzt folgt, ist ein langer Prozess der Demokratisierung über fünf bis zehn Jahre. Bei uns in Europa ist das auch nicht von heute auf morgen passiert“, sagt Friedensforscher Jochen Hippler von der Uni Duisburg-Essen.
Libyen
In Libyen ist der Ausgang des Bürgerkriegs noch nicht abzusehen – auch weil die Fronten nicht so klar sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Stämme aus dem Süden des Landes zum Beispiel kämpfen auf Seiten von Gaddafi, obwohl sie eigentlich seine Feinde sind. Sie wollen aber verhindern, dass sich die Rebellen aus dem Osten durchsetzen und sie bei einer dann möglichen Teilung Libyens benachteiligt werden, denn: im Osten liegt das Öl. Viel wird auch davon abhängen, ob und in welchem Ausmaß die USA und Europa ihre Unterstützung für die Rebellen aufrecht erhalten werden.
Libyen spielt zudem eine wichtige Rolle für die Machthaber im Jemen, in Syrien und in Bahrain, sagt Hippler: „Gaddafi hat gezeigt, dass ein Regime nicht stürzen muss, wenn es die Proteste blutig zerschlägt. Das hat die Machthaber ermutigt, gewaltsam gegen die Rebellion vorzugehen.“
Jemen
Im Jemen war vor dem Ausbruch des Libyen-Konflikts der Machtverzicht von Präsident Ali Saleh bereits ausgehandelt. Dieser will aber nun nicht freiwillig abdanken. Auch nach dem Attentat vom 3. Juni, bei dem er schwer verletzt wurde, sagte er in einem TV-Interview nichts zum Thema Rücktritt. Aktuell nimmt Vizepräsident Abed Rabbo Mansour Hadi kommissarisch die Regierungsgeschäfte wahr. Auch wenn einzelne Generäle zu den Oppositionellen übergelaufen sind, hält die Armee die Hauptstadt Sanaa.
Immer wieder gibt es Zusammenstöße mit Demonstranten, die sich auf dem Universitätsgelände verschanzen. Vielleicht 1000 Menschen haben in den Unruhen bisher ihr Leben verloren. In Jemens Provinzen haben viele unterschiedliche Stämme das Sagen. Ein Teil unterstützt den Präsidenten, ein Teil ist gegen ihn. Aber eine Einheit gegen Saleh ist eben wegen der verschiedenen Interessen der Stammesführer kaum möglich. Ein Ausgang der Protestwellen deshalb nur schwer vorherzusagen.
Syrien
Besonders skrupellos scheint Syriens Machthaber Bashar al Assad gegen die Opposition vorzugehen. Gesicherte Informationen aus dem Land sind kaum zu bekommen, da ausländische Journalisten nicht einreisen dürfen. Menschenrechtlern zufolge hat Assad bereits 1300 Zivilisten getötet – drei davon gestern. Seine Truppen sind mittlerweile bis zur türkischen Grenze vorgerückt und haben die Hochburg der Opposition, Hama, eingekesselt. Tausende Syrer sind in das Nachbarland geflohen. Assad weiß noch das Militär hinter sich ebenso wie die wirtschaftlichen Eliten des Landes. „Wenn die Sicherheitskräfte nicht auf Distanz zur Regierung gehen, werden die Unruhen blutig erstickt“, sagt Jochen Hippler.
Marokko, Jordanien, Algerien
In Marokko und Jordanien haben die Herrscher moderate Änderungen der Verfassung beschlossen, um der Revolutionswelle die Wucht zu nehmen. So hat Marokkos König Mohammed VI. auf Einfluss auf das Parlament verzichtet, bleibt aber dennoch Oberhaupt der Streitkräfte und „religiöser Führer“ des Landes. Beide Monarchien genießen noch eine Restlegitimität beim Volk, sodass aktuell nicht davon auszugehen ist, dass es dort zu Unruhen ähnlich wie in Syrien kommen wird.
In Algerien versucht Präsident Bouteflika sein Volk mit Subventionen für Nahrungsmittel, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Reduzierung der Steuern für Kleinunternehmer zu besänftigen.