Essen.. Die Staatsanwaltschaft Bochum und das Bundeskartellamt ermitteln wegen des Verdachts auf Ausschreibungsbetrug und unerlaubter Preisabsprachen gegen gut 30 Beschuldigte in zehn Unternehmen. Es ging um Schienenlieferungen für die Bahn.
Die Treffen der „Schienenfreunde“ im Hinterzimmer der Duisburger Pizzeria „Da Bruno“ waren kein Vergnügen. Der Raum hatte keine Fenster und war rundherum gekachelt. Die Teilnehmer der Runde mussten ihre Handys im Auto lassen. Erst als die Türen geschlossen waren, feilschten „Hannibal Lecter“, „das Brüderchen“ und „die Domina“ bei getrockneten Tomaten und eingemachten Auberginen über ihre Quoten. Wer darf wie viele Schienen an die Deutsche Bahn liefern?
Die Leute, die sich hier trafen, waren nicht Mitglieder der ’Ndrangheta-Mafia, für die das Lokal „Da Bruno“ seit einer Schießerei mit sechs Toten bekannt ist. Die Männer und Frauen mit den klingenden Tarnnamen gehörten einem Stahlkartell an, das über zehn Jahre die Preise für die Bahnschienen in Deutschland bestimmte. Erst jetzt flogen sie auf.
Die Staatsanwaltschaft Bochum und das Bundeskartellamt ermitteln wegen des Verdachts auf Ausschreibungsbetrug und unerlaubter Preisabsprachen gegen gut 30 Beschuldigte in zehn Unternehmen. Es droht eines der größten Kartellverfahren der letzten Jahrzehnte. Der WAZ liegen detaillierte Aufzeichnungen des Kartells für mehrere Jahre vor. Alleine in einem Jahr, nämlich 2006, lassen überzogene Abrechnungen auf Basis von Preisabsprachen einen Schaden von bis zu 100 Millionen Euro vermuten. Dieses Geld hat die Bahn zuviel für die Schienen bezahlt. Die Runde der „Schienenfreunde“ existierte mindestens zehn Jahre lang. Der Gesamtschaden könnte im hohen dreistelligen Millionenbereich oder sogar darüber liegen.
Neben Voestalpine ist die Thyssen-Krupp-Tochter GFT Gleistechnik in Duisburg betroffen. Als vor einigen Wochen die Ermittlung anfingen, zeigte sich Thyssen-Krupp überrascht. Eigentlich sollten Kartellabsprachen im Haus unmöglich sein. Die Mitarbeiter seien geschult im korrekten Geschäftemachen, heißt es. Die Konsequenzen sind entsprechend hart. Fast die gesamte Führungsmannschaft der GfT Gleistechnik wurde ausgetauscht. Zudem arbeitet Thyssen-Krupp intensiv mit den Ermittlungsbehörden zusammen. „Unser Interesse ist es, den Fall schnell und umfassend aufzuklären“, sagte ein Sprecher.
Festlegung auf Quoten
Das Kartell liebte das Geheimnisvolle. Die Beteiligten trafen sich bis zu sechsmal jährlich an wechselnden Orten. In Mainz, am Standort der DB Netz AG, die den Schieneneinkauf für die Deutsche Bahn organisiert. In Bottrop, wo das tschechische Stahlwerk Trinec eine Handelsniederlassung unterhält. In Seevetal bei Hamburg, wo die niederländisch-britische Corus-Gruppe ihre Beteiligung Stahlberg-Roensch pflegte. Und in Duisburg, im Lokal „Da Bruno“, das seit einer Mafia-Schießerei bekannt ist.
Von Anfang an waren die Konzerne Thyssen und Krupp über ein Schienenwerk und eine Handelstochter am Kartell beteiligt. Dazu kamen die bayerische Neue Maxhütte, die Schienentöchter des österreichischen Konzerns Voestalpine, die schwedische Inexa, sowie die niederländisch-britische Corus-Gruppe. Die Tschechen waren über den Händler CMC Trinec eingebunden. Das polnische Schienenwerk Huta Katowice wurde über den Händler Krupp GfT Gleistechnik integriert.
Die grundsätzliche Festlegung der Quoten im Kartell erfolgte bei persönlichen Besprechungen der „Schienenfreunde“, erzählt einer, der dabei war. Etwa vier Mal im Jahr gab es zudem Treffen, um Probleme im Kartell zu klären oder das Auftreten gegenüber der Bahn zu koordinieren. Die Feinabstimmung über konkrete Lieferungen fand am Telefon oder über verschlüsselte Datenleitungen statt.
Mächtige Verbündete
Bei ihren Besprechungen mussten „Hannibal Lecter“ und „die Domina“ immer wieder Ansprüche bändigen. Im Jahr 2006 schieden etwa die Inexa und die Neue Maxhütte wegen eigener wirtschaftlicher Schwierigkeiten aus dem Kartell aus. Die Corus-Gruppe wechselte die Strategie und übertrug dem Zwischenhändler Stahlberg Roensch die Anteile am Kartell. Der spanische Konzern Aceralia drängte zeitweise über den Essener Stahlhändler Ferrostaal in das Kartell, wurde aber den Unterlagen zufolge mit Aufträgen über wenige tausend Tonnen Stahl abgespeist.
„Hannibal Lecter“ und Co. setzten darauf, der Bahn Wettbewerb vorzutäuschen. Dazu stützten sie sich auf mächtige Verbündete im Kartell. Zunächst war da der österreichische Stahlkonzern Voestalpine. Dieser handelte zu Beginn mit Schienen aus seinem steirischen Werk Loeben. Nach der Fusion von Thyssen und Krupp kaufte Voestalpine dann auch noch das Duisburger Schienenwerk TSTG von Thyssen-Krupp. Der Revierkonzern blieb dem Kartell auch nach dem Verkauf der TSTG verbunden – über die Handelstochter GfT Gleistechnik kontrollierte Thyssen-Krupp den Vertrieb der Schienen aus dem polnischen Werk Huta Katowice.
Das Ende kam 2008
Nach Treffen mit Bahnvertretern habe man sich zusammengesetzt, um das Vorgehen abzusprechen, erzählt ein Mitglied des Kartells. „Unser Ziel war es immer, die Preise nach oben zu treiben.“ Am Schluss zahlte die Bahn über 1000 Euro je Tonne Schiene. Zum Vergleich: Nach Zusammenbruch des Kartells fielen die Schienenpreise um gut 35 Prozent – unmittelbar bevor die Stahlpreise im Zuge der Weltwirtschaftskrise abstürzten.
Der Geheimbund flog erst im Laufe des Jahres 2008 auseinander. Der Stahlkonzern Arcelor-Mittal hatte das polnische Schienen-Werk Huta Katowice gekauft — und die Preise des Kartells um rund 35 Prozent unterboten. Der Konzern gewann danach den größten Liefervertrag mit der Deutschen Bahn – und zwar alleine. Das war das Ende von „Hannibal Lecter“ und seinen Freunden.