Essen. . Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hält die Minderheitenregierung für stabil – und den Höhenflug der Grünen für vorrübergehend.

Seit einem knappen Jahr führt Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin eine rot-grüne Minderheitsregierung in NRW. Im Gespräch mit der NRZ zieht sie Bilanz – und erzählt, warum es wichtig ist, ab und an nicht an Politik denken zu können.

Frau Ministerpräsidentin, Ihre rot-grüne Minderheitsregierung hält jetzt knapp ein Jahr. Hätten Sie erwartet, dass es so glatt läuft?

Kraft: Wir haben immer gesagt, dass wir das so stabil wie möglich machen wollen. Bislang funktioniert es ausgesprochen gut. Wir haben noch keine Abstimmung verloren. Das wird nicht immer so bleiben. Aber die entscheidende Frage ist, ob wir handlungsfähig sind. Und mit einem verabschiedeten Haushalt sind wir das.


Was hat sich für Sie persönlich verändert?

Das Termin-Laufrad dreht sich natürlich noch schneller. Man muss immer aufpassen, sich ein Stück weit Freiräume zu erhalten, um ab und an einmal nicht über Politik nachzudenken. Dabei helfen mir meine Freunde und meine Familie. Ich finde es einfach wichtig, mich mal ganz normal beim Spielen erfreuen zu können, oder mit dem Hund durch den Wald zu laufen und die Gedanken schweifen zu lassen. Ich glaube, wenn man nur an Politik denkt, macht man keine gute Politik mehr.


Einigen Regierungsmitgliedern ist sehr deutlich vorgeworfen worden, keine gute Politik zu machen. Manche haben bereits ziemlich gewackelt. Wissenschaftsministerin Schulze zum Beispiel, oder Innenminister Jäger.

Die gesamte Landesregierung arbeitet gut. Dass die Opposition angesichts fehlender Inhalte ständig Skandal, Skandal ruft, müssen und werden wir ertragen. Im Übrigen kann man nicht arbeiten, ohne dass es Kritik gibt. Aber auf das, was wir in diesem Jahr inhaltlich erreicht haben, bin ich sehr stolz.


Auf was sind Sie besonders stolz?

Die Abschaffung der Studiengebühren war ein wichtiges Signal, ebenso die Stärkung der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. Die politisch wichtigste Entscheidung war natürlich der Haushalt.

Mit dem Nordrhein-Westfalen auch weiterhin auf Pump lebt.

Natürlich macht mir die Staatsverschuldung Sorge. Aber wir haben die richtige Richtung eingeschlagen, um nachhaltig Haushaltskonsolidierung zu erreichen: Wir wollen kein Kind mehr zurücklassen. Indem wir uns gezielt um Familien und die Kinder kümmern und auf Vorbeugung setzen, können wir enorme Reparaturkosten sparen. Eine Zahl: 1,15 Milliarden Euro geben die Kommunen nur in NRW für Jugendhilfemaßnahmen aus, wenn zum Beispiel Kinder und Jugendliche aus Familien geholt werden müssen. Wir müssen es schaffen, dass mehr junge Menschen bessere Abschlüsse machen. Das senkt Ausgaben und steigert die Einnahmen bei Steuern und Sozialbeiträgen. So bekommen wir langfristig eine Sanierung des Haushalts hin.

Wähler mögen aber keine Staatsschulden. Wird Ihr Ansatz von den Menschen verstanden?

Wenn ich nur mit pauschalen Vorwürfen befeuert werde, ist das schwierig. Aber, wenn ich die Chance habe, in mehr als einem Satz zu erklären, dass der vorbeugende Ansatz weit über Sozialpolitik hinaus geht und auch wichtig für den Wirtschaftsstandort NRW ist, erfahre ich viel Zustimmung.

Ist das Modell einer Minderheitsregierung auch eine Chance für die Demokratie?

Natürlich stärkt es das Parlament und ist für eine lebendige Demokratie interessant, sich immer wieder neue Mehrheiten suchen zu müssen. Es hat sich dadurch sicher auch einiges im parlamentarischen Miteinander verändert. Aber ich möchte das nicht zum Dauerzustand machen. Es hat durchaus Vorteile, eine stabile Mehrheit zu haben.

Warum haben Sie sich dann nicht auf Neuwahlen eingelassen?

Man kann nicht einfach neu wählen, weil eine Situation unbequem ist. Das entspricht nicht meiner Auffassung von Demokratie. Auch die Bürgerinnen und Bürger hätten dafür kein Verständnis. Für Neuwahlen müsste es einen guten sachlichen Grund geben. Den gab es bislang nicht. Wir sind handlungsfähig.

Derzeit versuchen Sie den Schulstreit zu lösen. Die CDU verweigert sich. Braucht es in der Frage überhaupt einen Konsens?

Ich kann nur an die CDU appellieren, sich aus Verantwortung für Nordrhein-Westfalen einem dauerhaft tragfähigen Schulkonsens nicht zu verweigern. Wir haben in der Bildungskonferenz eine breite Basis über fast alle Interessengruppen in der Schullandschaft erzielt. Es gibt also eine Grundlage. Wir werden weiter versuchen, zusammen zu kommen. Es geht ja um die Sache und das Wohl unserer Kinder.

Was steht im zweiten Jahr der Regierung Kraft auf der Agenda?

Die drei großen Projekte der nächsten Monate sind sicherlich das Tariftreuegesetz, das Integrationsgesetz und das Schulgesetz.


Ihr Koalitionspartner hat derzeit einen guten Lauf. Beunruhigt Sie das Umfragehoch der Grünen?

Nein. Man muss auch gönnen können. Seit Monaten steht ihr Kernthema im Mittelpunkt, der Atomausstieg. Aber es werden auch wieder andere Themen kommen. Es gibt viel, was die Menschen bewegt. Lohndumping, der dramatische Zuwachs an Minijobs und befristeten Arbeitsverträgen, beispielsweise, oder die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen. Das sind Themen, die wichtig sind und auf die die SPD die richtigen Antworten hat.

Mit Ihnen als Kanzlerkandidatin?

In der SPD werden wir die Frage der Kanzlerkandidatur im kommenden Jahr entscheiden. Für mich ist klar: ich möchte hier in NRW die nächste Wahl gewinnen, wann auch immer sie ist. Das steht für mich im Fokus.