Brüssel. . Der Fall Strauss-Kahn stellt die Presse vor die Frage, wo die Diskretion endet und die Berichtspflicht anfängt.

In Frankreich stellt man sich unbequeme Fragen. Viele Journalisten wussten, dass der zurückgetretene Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, ein Frauenheld von erheblicher Zudringlichkeit ist. Geschrieben hat das kaum einer.

Geht hier der Schutz des Privatlebens zu weit? Wo fängt die Berichtspflicht an? Brüsseler Korrespondenten aus acht europäischen Ländern berichten, wo in ihrer Heimat die Grenze zwischen Diskretion und Aufklärung verläuft.

Isabelle Ory (Frankreich)

In Frankreich ist die Presse eigentlich vorsichtig; das Privatleben gilt als schützenswert. Ein Politiker muss sich nicht untadelig im Privatleben verhalten – das private und das öffentlichen Leben sind zwei getrennte Bereiche. So wussten viele Journalisten, dass Präsident Sarkozy und seine damalige Frau Cécilia im Wahlkampf 2007 nur eine Scheinehe führten, schrieben das aber nicht. Zugleich ist die Nähe zwischen Politikern und Journalisten groß. Und viele Journalistinnen sind mit Politikern zusammen – Strauss-Kahn und Anne Sinclair sind nur ein Beispiel.

Stephen Castle (Großbritannien)

Bei uns in Großbritannien ist das Verleumdungsrecht streng – man braucht Beweise. Andererseits gibt es Geschäfte mit Skandalgeschichten: Boulevard-Blätter zahlen 30.000 oder 40.000 Pfund, dafür findet sich meist jemand, der die benötigte Zeugenaussage oder anderes Material liefert. Ein Seitensprung oder Homosexualität ist aber auch bei uns kein Skandal mehr.

Mikael Carpelan (Finnland)

Unser Ex-Präsident Kekkonen leistete sich eine Menge Seitensprünge, das schrieb aber keiner. Andererseits musste der letzte Außenminister Ilkka Kanerva zurücktreten, nachdem Details – schlüpfrige E-Mails - seiner Affäre mit einer Stripperin herausgekommen waren. Ein Fehltritt allein regt hier keinen auf. Aber wenn einer sich über längere Zeit und immer wieder zum Deppen macht, ist das ein Thema.

Urs Bruderer (Schweiz)

Die Schweizer sind stolz darauf, dass ihre Politiker normale Menschen sind, die auch Straßenbahn fahren. Wir akzeptieren die Privatsphäre von Politikern. Vor ein paar Jahren veröffentlichte ein Magazin eine Geschichte über einen Politiker, der mit Prostituierten allerlei Dinge trieb. Und eine Zeitung schrieb, dass ein verheirateter Botschafter eine Geliebte habe. Diese zwei Geschichten goutierte die Öffentlichkeit nicht; sie schädigten den Ruf dieser Medien. Wenn sich aber jemand – wie nun Strauss-Kahn – der Vorwurf der versuchten Vergewaltigung gemacht wird, dann ist das nicht mehr privat, sondern öffentlich; die Sache kommt ja vor Gericht.

Andrea Bonanni (Italien)

Man muss sauber trennen zwischen öffentlicher Rolle und Privatleben. Das Recht auf Intimität muss gewahrt bleiben. Als Silvio Berlusconis Ex-Frau öffentlich über ihren Mann klagte, war das eine legitime Story. Aber wenn sich niemand beklagt, weder Frau noch Freundin, dann geht das keinen etwas an. Dass Berlusconi trotz seiner Sex-Geschichten noch im Amt ist, hat nichts mit größerer Liberalität der Italiener zu tun. Das ist ein Kräftemessen zwischen den Institutionen, Polizei und Justiz gegen einen Teil der politischen Klasse.

Wolfgang Tucek (Österreich)

Solange jemand nur eine Affäre hat, aber seine Stellung nicht missbraucht, greifen österreichische Zeitungen das nicht auf. Politiker kommen in der Klatsch-Berichterstattung nicht vor. Bei Jörg Haider, dem inzwischen verstorbenen Chef der rechtspopulistischen Partei FPÖ gab es Gerüchte, er sei schwul. Da galt allerdings ein stillschweigender Deal: Solange die FPÖ nichts gegen Schwule sagt, schreiben wir auch nicht darüber.

György Folk (Ungarn)

Über das Privatleben von Politikern berichtet die Presse ziemlich freizügig. Ich habe aber noch nie erlebt, dass wegen einer privaten Skandalgeschichte jemand sein Amt niedergelegt hat. Der heutige EU-Abgeordnete Tamás Deutsch zum Beispiel war früher Familienminister. Er betrog seine Frau an allen Ecken und Enden, bis sie sich scheiden ließ. Das entsprach nicht gerade dem Anspruch seines Amts. Und die Vorsitzende der Medien-Kontrollbehörde Annamaria Szalai war mal Herausgeberin eines Porno-Magazins – jetzt wacht sie über die Moral der ungarischen Presse.

Augustin Palokaj (Kroatien)

Sobald solche Geschichten hochkochen, schreibt jeder darüber. Allerdings kochen sie nur selten hoch. Es gibt reichlich Gerüchte über Politiker-Affären, wir sind ein recht klatschsüchtiges Land. Doch wenn einer etwas mit seiner Sekretärin hat, dann gilt das für die Medien als Privatsache. Diese Selbstzensur beruht auf der Einsicht, dass keiner von uns ein Heiliger ist. Es ist die Scheinheiligkeit einer sehr katholischen Gesellschaft: Was geschieht, ist egal, so lange keiner darüber berichtet. Wenn Politiker Fehler im Job machen, korrupt sind, Günstlinge bevorzugen oder wenn es um Vergewaltigung geht, ist der Spaß aber vorbei.