Ein müder Greis mit grauem Bart, in eine wärmende Decke gehüllt, in der Hand die TV-Fernbedienung, der sich im Programm des arabischen Nachrichtensender Al Dschasira selbst betrachtet – nichts hat diese Szene gemein mit dem Bild des unbeugsamen Kriegers, das Osama bin Laden für seine Anhängerschaft inszenierte.
So gealtert und isoliert in einem kargen Raum mit nackten Wänden sollte die Welt den 54-jährigen Terrorfürsten nach dessen eigenen Vorstellungen gewiss nie sehen. Den Video-Schnipsel hat das US-Verteidigungsministerium am Wochenende veröffentlicht, in der klaren Absicht, am Mythos bin Ladens zu kratzen.
Dass bin Laden dessen ungeachtet eine weit aktivere Rolle im Terror-Netzwerk El Kaida spielte als zuletzt vermutet, steht für die US-Regierung nach den Funden in dessen Residenz außer Frage. „Er war nicht nur ein strategischer Vordenker, sondern aktiv in die Planung neuer Anschläge eingebunden“, hieß es in Washington. Das widersprach der Lesart der letzten Jahre. Zunehmend waren CIA und Pentagon davon überzeugt, dass der Gründer des Terrornetzwerks lediglich noch die Rolle einer Symbolfigur spiele, die operative Planung neuer Terrorakte aber längst in anderen Händen liege.
Die Funde in bin Ladens Versteck auf Computer-Festplatten, Speicher-Sticks und in Form handschriftlicher Notizen, eine „Schatztruhe“ aus US-Sicht, lassen nun aus US-Darstellung andere Rückschlüsse zu. Bin Ladens nach außen abgeschottete Residenz im pakistanischen Abbottabad, in der es weder Telefon noch einen Internet-Zugang gab, sei ein Kommando- und Befehlszentrum für El Kaida gewesen. Auf einem weiteren veröffentlichten Video-Clip, der vermutlich im letzten Herbst entstand, wettert bin Laden in bekannter Manier gegen Amerika. Offensichtlich hat er sich für diese Szene den Bart und die Haare gefärbt und sich in Schale geworfen. „Eindeutig war er sehr an seinem eigenen Bild interessiert. Eifersüchtig hat er auf sein Image geachtet“, hieß es dazu.
Beweise für bin Ladens aktiven Einfluss auf neue Terrorpläne wollte die Regierung zwar nicht vorlegen. Analysten von CIA, Pentagon und anderen Dienststellen sind dabei, das Material auszuwerten, das die Navy Seals mitgenommen hatten. Die Videos vom Wochenende wurden ohne Ton veröffentlicht. „Es ist nicht unsere Aufgabe, bin Ladens Botschaften in die Welt zu tragen“, hieß es dazu.
Der Regierung ging es mit der kommentierten Veröffentlichung der insgesamt fünf Video-Clips in erster Linie tatsächlich darum, der amerikanischen Öffentlichkeit deutlich zu machen, welche Bedrohung bin Laden noch immer darstellte. Die immer neuen Berichtigungen und Schilderungen über den Verlauf des Zugriffs hatten in den USA zwar keine Zweifel an der Berechtigung ausgelöst, bin Laden zu erschießen. Aber dass die US-Elitesoldaten bei ihrem Angriff auf weit weniger Gegenwehr stießen als zunächst behauptet, sorgte zumindest für einige Irritationen.
Noch immer sind längst nicht alle Fragen dazu beantwortet, was sich in der Residenz abspielte. Nachdem sich Präsident Obama überdies dagegen entschieden hatte, Fotos des zerschossenen Körpers bin Ladens zu veröffentlichen, sollten die Videos auch den Beweis erbringen, dass die USA wirklich den Terrorchef in seinem Versteck mitten in Pakistan aufgestöbert hatten.