Dortmund. . Essen. Noch kurz vor der Bundestagswahl 2009 schlug die OECD Alarm: 16,3 Prozent der Kinder in Deutschland sind arm. Nun verblüffte sie mit einer neuen Quote von 8,3 Prozent. Doch dahinter steckt keine Halbierung der Kinderarmut, sondern eine Statistik-Panne.

Politiker argumentieren gern mit Zahlen. Mit harten Zahlen. Die wichtigsten Zahlen, auf die sich Sozialpolitiker aller Parteien seit fast 30 Jahren berufen, stehen im Sozioökonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Das musste sich nun derart drastisch korrigieren, dass grundsätzliche Zweifel an dieser zentralen Statistik entstehen. Sie hat immerhin die sozialpolitischen Debatten der vergangenen Jahre maßgeblich beeinflusst, unter anderm die Erhöhung des Kindergeldes und die Hartz-IV-Reformen.

Wie wird Armut gemessen?

Als arm gilt nach europäischem Standard, wer über weniger als 60 Prozent des so genannten Medianeinkommens verfügt. Die OECD setzt für ihre Statistiken nur 50 Prozent des Medians an, wodurch die Armutsquote geringer ausfällt. Der Median ist nicht der Durchschnitt aller Einkommen, sondern nur der mittleren Einkommensgruppe, also der Mittelschicht.

Wer hat was korrigiert?

Die OECD hatte in ihrer jüngsten Familienstudie ohne großes Aufhebens Deutschland eine niedrige Kinderarmutsquote von 8,3 Prozent für 2009 bescheinigt. Das sei im internationalen Vergleich sehr gering und das Ergebnis umfangreicher Familienförderung in Deutschland. Der Schönheitsfehler: Noch vor zwei Jahren klagte die OECD kurz vor der Bundestagswahl über eine dramatisch hohe Kinderarmutsquote von 16,3 Prozent. Die damalige Zahl bezog sich auf das Jahr 2004. Sie wurde im Nachhinein auf zehn Prozent korrigiert.

Wo lag der Rechenfehler?

Wie DIW-Statistiker Markus Grabka gestern einräumte, war die Kinderarmutsquote sehr ungenau. Das DIW ruft seit 1984 jedes Jahr 11 000 Haushalte an und bittet sie um detaillierte Angaben zu ihren Einkünften und Lebensverhältnissen. Allerdings antworten immer weniger, vor allem liegen aus Haushalten mit mehreren Erwerbstätigen nicht alle Angaben vor. „Das hat bei der Kinderarmutsquote zu erheblichen Abweichungen geführt“, sagt Grabka. Arbeitslose und Geringverdiener sind augenscheinlich besser erreichbar als Gutverdiener. Das hat das Ergebnis enorm verzerrt. Doch Grabka betont, das Problem habe man bereits vor drei Jahren erkannt und die OECD mehrfach darauf hingewiesen, dass die Zahlen revidiert würden.

Haben wir nun weniger arme Kinder oder nicht?

„Jede Statistik kann nur Annäherungswerte leisten“, sagt der Remagener Statistik-Professor Gerd Bosbach. Das DIW-Verfahren sei aber besonders fehleranfällig: „Stichproben ohne Auskunftspflicht sind immer ungenau, weil manche Gruppen sich mehr und manche weniger beteiligen. Das weiß man vorher und muss die Statistik entsprechend begradigen.“

Allerdings bezweifelt Bosbach auch das neue Ergebnis: „Die Kinderarmut hat sich kaum verändert, das kann man an den konstanten Zahlen der Hartz-IV-Kinder ablesen.“ Derzeit leben rund 1,7 Millionen Unter-15-Jährige in Hartz-IV-Haushalten. Allein das sind 13 Prozent ihrer Altersgruppe. Auf dieses Niveau kommen auch Statistiken auf europäischer Datenbasis. Und auch DIW-Experte Grabka sagt: „Das Problem der Kinderarmut bleibt.“
Wie reagiert die Politik?

Die Sozialexperten der Parteien kritisieren die Statistik-Panne einhellig, sehen aber keinen Grund, ihre Politik zu ändern. „Wir werden deshalb sicher nicht das Kindergeld wieder senken“, sagt Dorothee Bär (CSU), familienpolitische Sprecherin der Union. Auch Johannes Vogel (FDP) sieht „keinen Grund, gesetzgeberisch tätig zu werden“. „Sozialpolitik muss sich um jedes einzelne Kind kümmern, Prozentpunkte dürfen nicht der Gradmesser sein“, meint Elke Ferner (SPD).

Doch ihr Vertrauen in die angeblich repräsentativen Umfragen des DIW ist dahin. Sie fordern eine Überarbeitung der Methoden, um „verlässliche Daten“ zu erhalten.