Berlin. . Pakistan könnte noch einen hohen Preis für den Tod Osama bin Ladens zahlen. Die schwierige wirtschaftliche Lage radikalisiert die Menschen zunehmend.

„Abstieg ins Chaos“ heißt das eindringlichste Buch, das in jüngster Zeit über Pakistan verfasst wurde. Sein Autor, der aus Lahore stammende und international angesehene Journalist Ahmed Rashid, zeichnet darin ein ausgesprochen düsteres Bild seines Landes. Kern-These: Geographisch eingeklemmt zwischen Indien und Afghanistan droht dem 180 Millionen Einwohner zählenden Atomstaat Pakistan der schleichende Zerfall. Angetrieben von Gewalt, Willkür, Korruption und wirtschaftlichem Ungleichgewicht, gewinnt der militante Islamismus mehr und mehr die Oberhand.

Eine Einschätzung, die durch die Tötung von El Kaida-Chef Osama bin Laden zusätzliche Nahrung erhält. Denn dass sie auf pakistanischem Boden geschah, lässt Fachleute rätseln. Noch bis vor wenigen Wochen galt eine seltsame Gleichung als handelsübliche Beschreibung der facettenreichen pakistanischen Wirklichkeit: Pakistan ist Alliierter des Westens im Kampf gegen El Kaida — und zur selben Zeit Brutstätte des Terrors, der sich gegen den Westen wendet.

Geheimdienst in Schlüsselrolle

Dem pakistanischen Geheimdienst ISI wird hier eine Schlüsselrolle zugeschrieben, weil er aus Sicht internationaler Behörden extremistische Gruppen wie die Taliban über viele Jahre finanziell und militärisch unterstützt und gleichzeitig punktuell ausgeschaltet hat. Eine Doppelstrategie, die zuletzt in Washington immer saurer aufstieß. Pro Jahr investieren die USA ein Milliarde Dollar in Militärhilfen für Pakistan. Dass mit diesem Material später im Nachbarland Afghanistan reihenweise US-Soldaten getötet wurden, wollte die Obama-Regierung nicht länger hinnehmen.

Ob und inwieweit pakistanische Behörden ihre schützende Hand über bin Laden weggenommen haben und den tödlichen Zugriff einer Spezialeinheit somit erst ermöglicht haben könnte, werden die nächsten Wochen zeigen. Schon heute ist jedoch absehbar, dass die US-Aktion die Erregungskurve in der pakistanischen Gesellschaft noch weiter nach oben schnellen wird.

Bis heute wird dort heftig über zwei politische Morde debattiert, die weltweites Aufsehen erregten. Im März wurde der für die christliche Minderheit zuständige Minister Shahbaz Bhatti von radikalen Islamisten getötet. Zwei Monate vorher war ein Gouverneur von einem Leibwächter erschossen worden. Beide Politiker waren Gegner des so genannten Blasphemiegesetzes. Es sieht die Todesstrafe für Fälle vor, die zentrale Symbole des Islam verunglimpfen.

Solidarität mit den Mördern

Der gesellschaftliche Aufschrei gegen die Morde verblüfft den Westen bis heute. „Überall im Lande gab es Solidaritätsdemonstrationen mit den Mördern“, berichtet Babak Khalatbari, Repräsentant der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Der gebürtige Wittener hat in einer Studie die Gefahr eines schleichendes Zerfalls Pakistans herausgearbeitet. Dabei spielt -- neben dem Pulverfass der verschiedenen Religionen und der politischen Instabilität – vor allem die Wirtschaftskrise eine zentrale Rolle.

„Über 70 Prozent der von uns Befragten befürchten, dass die schlimme wirtschaftliche Lage zu sozialen Unruhen führt“, sagt Khalatbari. Ein Grund: Der Mann auf der Straße müsse zur Befriedigung einfachster Le­bensbedürfnisse binnen kürzester Zeit um 50 Prozent höhere Preise zahlen. Der Unmut darüber, dass die Regierung kaum etwas dagegen unternehme, mache sich unter anderem in einem immer massiver werdenden Anti-Amerikanismus bemerkbar. Ein Phänomen, das durch die Tötung bin Ladens eskalieren könnte.