Tschernobyl. .

Was haben Fukushima und Tschernobyl gemeinsam?, fragen sich Atomexperten. Jetzt, da die beiden Reaktorunglücke nun offiziell in der in­ternationalen Bewertungsskala (Ines) gemeinsam auf der höchsten Gefahrenstufe 7 eingeordnet sind. Manches unterscheidet sie, eines verbindet die beiden Katastrophen: Auch in Japan werden die Menschen rund um die havarierten Reaktoren nun lernen müssen, mit der Radioaktivität in ihrer Umwelt zu leben.

„Wir haben die Einstufung der Schwere (des Unglücks) auf sieben angehoben, weil die Auswirkungen der Strahlung umfassend sind, in der Luft, im Gemüse, in Leitungs- und Meerwasser“, sagte Minoru Oogado von der Atomsicherheitsbehörde Nisa. Zuvor und nach langem Zögern hatte die japanische Regierung die Evakuierungszone um den Atomkomplex Fuku­shima auf mehr als 30 Kilometer ausgeweitet.

Weniger Strahlung

Nachdem, was die Experten aktuell über das Reaktorunglück in Japan wissen, ist die bislang freigesetzte Radioaktivität weitaus geringer als 1986 in Tschernobyl. Doch in der Ines-Skala zählt insbesondere die Dimension der Gefährdung: Die höchste Stufe 7 be­deutet schwersten Auswirkungen auf Menschen und Um­welt. Was das bedeutet, davon berichten Ärzte in der Ukraine: Die Menschen rund um Fukushima, so befürchten sie, werden ihr Leben neu organisieren müssen.

25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl geht die Radioaktivität in den betroffenen Gebieten langsam zurück. Doch noch sind die Spuren überall. In den belasteten Ge­bieten in der Ukraine, in Russland und Weißrussland findet sich das radioaktive Element Cäsium-137: in den Böden, in der Milch, in Waldfrüchten wie Pilzen oder Beeren, im Fisch oder im Gemüse, das die Kinder essen, um gesund durch den Winter zu kommen. „Es geht in die Nahrungsmittelkette“, sagt die Wissenschaftlerin Irina Labunska, die für Greenpeace Lebensmittel untersucht hat. Von Cäsium-137, sagt sie, wird erst in 300 Jahren nichts mehr zu messen sein.

Belastete Lebensmittel

Nicht immer entscheidet die Nähe zum Unglücksreaktor über Schicksale. Die Region Rokytne, die 300 Kilometer von Tschernobyl entfernt nahe der weißrussischen Grenze liegt, befand sich damals auf der Route der radioaktiven Wolke. Was aus ihr niederging, bestimmt noch immer das Leben der Menschen: Cäsium-137, Strontium. Vor zwei Jahren habe die ukrainische Re­gierung ihr staatliches Überwachungsprogramm eingestellt, klagt Labunska.

Seitdem misst sie auf eigene Faust. In 93 Prozent der jüngst untersuchten Milchproben seien die ukrainischen Strahlengrenzwerte für Kinder um mehr als das Zehnfache überschritten worden. Auch Pilze und Beeren seien zum Teil erheblich belastet gewesen. Im Herbst sei es am schlimmsten: „Dann haben die Kühe das Gras des Sommers gefressen und die Menschen im Wald gesammelt“, sagte Labunska.

Kranke Kinder

Es gibt nur wenige umfassende Studien über die ge­sundheitlichen Folgen der be­lasteten Lebensmittel. „Zwei Drittel der Kinder hier sind krank“, sagt Igor Bogdanez, stellvertretender Leiter des Distriktkrankenhauses von Rokytne. Für die 43 000 Menschen in seinem Einzugsgebiet sind Blutuntersuchungen zur Routine geworden.

15 000 Kinder im Alter von unter 13 Jahren betreuen die Ärzte. Sie leiden an unterschiedlichen Krankheiten: Er­­kältungen, Lungenentzündungen, das Immunsystem sei schwach: „Kinder im ersten Lebensjahr bekommen keine Mandelentzündung. Hier sind sie schon im Alter von vier Monaten keine Seltenheit.“

Der Staat kürzt

Rokytne und andere Regionen in der Ukraine fürchten den Tag, an dem die Regierung die Zuwendungen weiter kürzt, weil die radioaktive Be­lastung gesunken ist. Noch werden Zehntausende Kinder in betroffenen Zonen regelmäßig in Sanatorien oder zu Gastfamilien gefahren. Noch erhalten sie in Kindergärten oder Schulen kostenlos die „sauberen Lebensmittel“.

Eines kann sich Igor Bogdanez nicht verzeihen. Als die Wolke kam, seien die Ärzte ahnungslos gewesen. „Wir wussten nichts von der Gefahr und haben keine Jod-Tabletten verteilt. Seit 1990 steigen nun die Fälle von Schilddrüsenerkrankungen“, sagt er. Bogdanez spannt den Bogen von Tschernobyl zu Fukushima: „Ich bete, dass die japanische Regierung den Menschen die Wahrheit sagt.“