Generalstab in der Türkei droht im Streit um den nächsten Staatspräsidenten mit einer Intervention.Verfassungsgericht soll bis Mittwoch entscheiden, ob die Wahl so überhaupt stattfinden kann

Ankara. Alles gelaufen? Das glaubte Ministerpräsident Erdogan wohl, auch wenn sein Präsidentschaftskandidat, Außenminister Abdullah Gül, bei der ersten Abstimmung im Parlament die nötige Zweidrittelmehrheit verfehlte. Immerhin bekam Gül vier Stimmen der Opposition, "mehr als erwartet", wie sich Erdogan freute; im zweiten Durchgang am Mittwoch werde der Kandidat die Zweidrittelmehrheit erreichen, sagte Erdogan. Die von der Opposition angestrengte Verfassungsklage gegen das Wahlverfahren mache ihm "keine Sorge".

Aber dann, gegen 23 Uhr, meldete sich das Militär zu Wort - und erinnerte den Ministerpräsidenten an die wahren Machtverhältnisse in der Türkei. "Die türkischen Streitkräfte verfolgen die Entwicklung mit Sorge", hieß es düster auf der Internetseite des Generalstabs. Es gehe um die Zukunft der säkularen Staatsordnung. Man dürfe nicht vergessen, "dass die türkischen Streitkräfte als absolute Verteidiger des Säkularismus Partei in dieser Debatte sind". Wenn nötig, würde die Armee "offen und klar ihre Haltung zeigen - niemand sollte daran zweifeln", heißt es.

Lange hatten die Generäle zum Streit um die Präsidentenwahl geschwiegen. Die Kontroverse trieb erst vor zwei Wochen hunderttausende Demonstranten auf die Straßen der Hauptstadt Ankara. Gestern demonstrierten Hunderttausende in Istanbul für die Trennung von Staat und Religion. Viele Türken fürchten um die Zukunft der weltlichen Staatsordnung, wenn die islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des gewendeten Fundamentalisten Erdogan nun auch nach dem einflussreichen Amt des Staatspräsidenten greift.

Lediglich zu der Mahnung, ein Staatsoberhaupt müsse die Grundprinzipien der Verfassung "nicht nur mit Worten, sondern in der Praxis achten", sahen sich die Militärs veranlasst. Jetzt werden sie deutlicher: Unverhohlen drohen sie mit einer Intervention. Anders als die Warnung vor einem Militärputsch kann die Erklärung des Generalstabs nicht interpretiert werden. Dass sie nicht in einem vertraulichen Dossier, sondern im Internet verbreitet wird, soll ihr wohl noch mehr Nachdruck verleihen.

Die Regierung wies die Intervention der Militärs mit einer ebenso scharf formulierten Erklärung zurück, und Gül will an seiner Kandidatur festhalten. Aber er stellt das Land damit vor eine riskante politische Machtprobe. Die Angst vor einem Staatsstreich geht um, selbst unter Kritikern der Regierung: "Keine Scharia, kein Putsch" riefen die Demonstranten in Istanbul.

Seit 1960 haben die türkischen Militärs vier Regierungen gestürzt - unter Berufung auf den Republikgründer Atatürk, der sie in seinem politischen Testament zu Wächtern über die weltliche Staatsordnung berief. "Bestimmte Kreise", so erklären die Militärs nun, seien "verstärkt bemüht, die fundamentalen Werte der Republik zu untergraben".

Ministerpräsident Erdogan nimmt das nicht auf die leichte Schulter. Er rief Generalstabschef Yasar Büyükanit an. Er versicherte, seine Regierung wisse um die Sensibilität der Fragen, die in der Erklärung des Generalstabs angesprochen wurden.

Wer Adressat dieser Erklärung sein soll, ist unschwer zu erraten: das Verfassungsgericht, das bis Mittwoch entscheiden soll, ob die Wahl überhaupt stattfinden kann, wenn, wie am Freitag, weniger als zwei Drittel der Abgeordneten im Plenum waren. Das bezweifelt die Opposition. Geben die Verfassungsrichter ihrem Antrag statt, müsste das Parlament aufgelöst werden. Die Opposition erneuerte ihre Forderung nach Neuwahlen als Ausweg. Dass Premier Erdogan jetzt zu den Beratungen seinen Innenminister hinzuzog, könnte darauf hindeuten, dass auch er diesen Schritt erwägt - in der Hoffnung auf einen Wahlsieg seiner AKP.