Brüssel. . Die Zahl der Flüchtlinge aus Libyen geht schon jetzt in die Hunderttausende. Die EU-Kommissarin Kristalina Georgieva fordert die EU-Länder auf, sich auf eine befristete Aufnahme vorzubereiten.
Ein Ende der Gewalt in Libyen ist nicht abzusehen. Mehr und mehr Menschen fliehen in die Nachbarländer Ägypten und Tunesien. Die EU-Kommission hat Hilfe in Höhe von zehn Millionen Euro zugesagt – doch Europa sollte sich auch auf die vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen vorbereiten, meint Kristalina Georgieva, EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe. Mit ihr sprach Martina Herzog.
Frau Georgieva, was sind derzeit die drängendsten Aufgaben in Libyen?
Unmittelbar die Gesundheit. Das Land hat zwar ein ganz ordentliches Gesundheitssystem, aber die meisten Angestellten dort sind Ausländer. Sie sind nach Hause geflohen. Wir brauchen auch dringend medizinisches Material, am besten mit Hilfe durch das Rote Kreuz, den Roten Halbmond und „Ärzte ohne Grenzen“. Auch bei Nahrungsmitteln hapert es. Die Versorgung hängt an Importen, die nun plötzlich nicht mehr durchkommen.
Haben Sie hier ein gutes Bild der Lage vor Ort?
Hier Notfallpläne aufzustellen ist wie Autofahren im Nebel – wir haben keine gesicherten Informationen. Deshalb ist es so außerordentlich dringend, dass wir Mitarbeiter nach Libyen hineinbekommen. Libyen ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall. Schon vor der Krise waren die Vereinten Nationen praktisch nicht in der Lage, dort im Notfall zu helfen. Internationale Organisationen gab es nicht. Das macht den Zugang sehr schwierig.
Mit wie vielen Flüchtlingen aus Libyen rechnen Sie?
Wir wissen, dass mehr als 100 000 Flüchtlinge dabei sind, die Grenzen nach Ägypten und Tunesien zu überqueren. Einige flüchten sogar in arme Länder wie Niger. Internationalen Organisationen zufolge sind 1,5 Millionen Ausländer in Libyen, und ein großer Teil davon will wahrscheinlich raus. Wir wissen nicht, wie viele, ob es 20 oder 30 Prozent sein werden oder mehr. Aber wir müssen vorbereitet sein.
Wollen die Flüchtlinge nach Europa?
Diese Möglichkeit gibt es. Viele Ausländer werden Probleme bei der Rückkehr in ihre Heimatländer bekommen: In Ägypten herrschen ungeordnete Verhältnisse, ebenso in Tunesien. Sie werden dort nicht einfach eine Arbeit finden. Im Augenblick verlassen nicht besonders viele Libyer ihre Heimat. Die Ägypter lassen sie nur ins Land, wenn sie verwundet sind. Aber wir wissen nicht, was noch kommt. Das können anhaltende Unruhen sein oder – was wir nicht hoffen – ein Bürgerkrieg. Und dann könnten auch Libyer fliehen. Auch darauf müssen wir vorbereitet sein.
Wie sollte die Europäische Union reagieren?
Europa hat ein sehr gutes Instrument zur Verfügung. Ein Gesetz über die Gewährung vorübergehenden Schutzes. Diese Richtlinie ist genau für solch ein Szenario vorgesehen: Für Migration im großen Stil, ausgelöst durch einen Bürgerkrieg oder Massenunruhen. Sie erlaubt den EU-Ländern, gemeinsam für eine Dauer von einem Jahr Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Frist kann um sechs Monate verlängert werden. Danach werden die Menschen zurückgebracht in ihre Heimat.