Essen. . Libyen ist eine Wirtschaftsmacht, auch Deutschland hängt an ihrem Tropf. Jeder 14. Liter unseres Öls kommt von dort. Experten vergleichen das Land schon lange nicht mehr mit seinen armen Nachbarn – sondern mit den reichen Golfstaaten.

Libyen – das Land eines verrückten Diktators, der den Terror unterstützt und Menschenrechte missachtet. Dieses Bild ist im Westen gut bekannt. Kaum jemand nimmt hingegen wahr, dass Libyen eine afrikanische Wirtschaftsmacht ist. Und dass der ex­zentrische Oberst Gaddafi sich zu einem zwar ungeliebten, aber kaum verzichtbaren Partner der EU gemausert hat. Denn erstens fördert sein Wüstenstaat jede Menge Öl und zweitens hindert Gaddafi afrikanische Flüchtlinge da­ran, nach Europa zu reisen – jedenfalls bisher.

Libyen hat keine Auslandsschulden, Libyen kam fast ohne Kratzer durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, Libyens Bürger verdienen im Schnitt etwa sechs Mal so viel wie die Ägypter, Libyen baut mit internationaler Hilfe Fernstraßen, schnelle Eisenbahnen und Kraftwerke in den Wüstensand. „Die Wirtschaft des reichlich mit Öl und Gas gesegneten Landes kann eher mit der der Golfstaaten verglichen werden als mit Libyens armen afrikanischen Nachbarn“, sagt Christian Glosauer von German Trade and Invest (GTI), der neuen Gesellschaft der Bundesregierung für Außenwirtschaft.

Wir kaufen dort mehr als Libyen bei uns

Auch Deutschland hängt am libyschen Tropf. Die Bundesrepublik investiert viel mehr Geld in Waren aus dem Gaddafi-Land als deutsche Unternehmen dort für ihre Produkte bekommen. Wobei es eigentlich nur eine Ware ist, die zu uns fließt: Erdöl. „Im Jahr 2009 für drei Milliarden Euro“, weiß Christian Glosauer. Jeder 14. Liter nach Deutschland gelieferten Rohöls stammt aus Libyen, und das Öl könnte noch lange weiter sprudeln. Libyen hat mit 41 Mliarden Barrel die größten nachgewiesenen Reserven Afrikas, stellt die GTI fest.

Das Problem: Dieser natürliche Reichtum kommt mitnichten allen Bürgern zugute. Zwar verdienen Libyer im Schnitt 12 000 Dollar im Jahr, aber die soziale Ungleichheit ist immens. „Das Geld ist sehr ungleich verteilt. Libyen ist nicht Dubai oder Katar“, sagt Thomas Schiller, Nordafrika-Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wenn die Staatsautorität nach 40 Jahren zusammenbrechen sollte, dann würden auch viele Libyer zu potenziellen Migranten. Schiller: „Die libyschen Sicherheitskräfte haben jetzt kaum Zeit, sich mit Flüchtlingen aus anderen afrikanischen Ländern zu beschäftigen.

Und was passiert, wenn die Diktatur zerbricht? Die Mittelmeerstaaten Europas haben Angst vor einem komplett instabilen Libyen. Es ginge ja dann nicht nur um Flüchtlinge aus anderen Ländern Afrikas, sondern auch um arabische Einwanderer, die in Libyen arbeiten und um Libyer, die sich entschließen könnten, ihr Land zu verlassen.“

Wichtige Stämme

Libyen sei noch stark durch seine Stämme geprägt – darauf weist der Nordafrika-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung, Ralf Melzer hin. „Gaddafi hat das bislang immer gut nutzen können, um seine Position zu festigen. Das scheint ihm nun entglitten zu sein.“

Libyen steht Kopf, und Europa kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Regierung in Tripolis zigtausende Flüchtlinge stoppt. Schon droht Gaddafi damit, kein wachsames Auge mehr auf die Migranten zu werfen. Nicht erst seit seine Herrschaft in Gefahr ist, spielt Gaddafi diese Karte aus. Er will noch mehr Geld für seine Dienstleistung als Flüchtlings-Polizist. 50 Millionen Euro hatte Brüssel Gaddafi 2009 dafür überwiesen, die EU-Kommission unterschrieb Vereinbarungen mit Libyen über Migrationsfragen. Seit 2009 gibt es auch das kritisierte Flüchtlings-Rückübernahmeabkommen zwischen Libyen und Italien. Wenn Europa nicht mit ihm zusammenarbeite, so Gaddafi, dann werde „der christliche, weiße Kontinent Europa schwarz werden“.

Ein beschämendes Kapitel

Organisationen wie Pro Asyl warnen: „Die Zusammenarbeit mit dem libyschen Regime zählt zu den beschämendsten Kapiteln der EU-Flüchtlingspolitik. Seit Jahren hofieren die EU und ihre Mitgliedstaaten Gaddafi, um den Fluchtweg nach Europa zu sperren. Die EU-Institutionen schauen weg, wenn Italien Völker- und europäisches Recht verletzt und Bootsflüchtlinge gewaltsam nach Libyen zurück verfrachtet.“

Wegen der blutigen Proteste ziehen deutsche Unternehmen nun ihre Mitarbeiter ab. Die Firmen bemühten sich am Montag, Flüge für ihre ausländischen Angestellten zu be­kommen. Das Auswärtige Amt hatte zuvor eine Reisewarnung ausgesprochen. Die BASF-Tochter Wintershall, schon seit 1958 in Libyen, fliegt ihre ausländischen Mitarbeiter und deren Angehörige aus, sagte ein Sprecher dieser Zeitung. Insgesamt seien es 130 Personen.

Förderung gedrosselt

Es bleibe nur eine Kernmannschaft vor Ort, die Zentrale in Tripolis sei vorübergehend nicht besetzt. Wintershall betreibt acht Bohrfelder rund 1000 Kilometer südöstlich der Hauptstadt und produziert 100 000 Barrel Öl pro Tag. Die Förderung werde nun kontrolliert heruntergefahren. Die für Öl- und Gasförderung zuständige RWE-Tochter DEA beschäftigt 100 Mitarbeiter in Libyen, die Mehrzahl davon sind Einheimische.

Auch Siemens organisiert nach Auskunft eines Sprechers die Ausreise der ausländischen Mitarbeiter. Es handele sich um weniger als 100 Angestellte.