Kairo. .

Lange waren sie in der politischen Deckung geblieben. Die ersten Aufrufe der Facebook-Aktivisten zum „Tag des Zorns“ hatte die Muslimbruderschaft mit leisem Applaus begleitet, ohne sich ihnen anzuschließen. Erst als sich der Aufstand wie ein Flächenbrand auszubreiten begann, sprang sie auf den fahrenden Zug und orderte ihre Mitglieder mit auf die Straße.

Und inzwischen wird die seit 1954 verbotene Organisation von dem Regime intensiv umworben. Vizepräsident Omar Suleiman rief sie auf, sich an einem nationalen Dialog zu beteiligen. „Sagt dem Mursched, er soll sich mit uns zusammensetzen“, rief Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi der Menge zu, als er sich am Freitag als erstes Mitglied der Regierung auf dem Tahrir-Platz sehen ließ. Gemeint ist Mohammed Badie, der Chef der Islamistenorganisation. Der antwortete, man werde an dem nationalen Dialog teilnehmen und sich an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligen. Aber erst, wenn Mubarak weg ist.

„Wir sind eingeladen“

Am Sonntag früh war von Mubaraks Rücktritt dann nicht mehr die Rede. „Wir sind eingeladen und wir kommen“, ließ Badie durch seinem Sprecher erklären. Bedingung sei, dass an den Verhandlungen auch Vertreter der Jugend vom Tahrir-Platz teilnähmen. „Wenn die Forderungen der jungen Leute nicht erfüllt werden, werden wir unsere Entscheidung überdenken.“

1928 in Ägypten gegründet, ist die Muslimbruderschaft die älteste und am besten organisierte islamistische Gruppierung im Land. Ihre Zentren heute sind die Hafenstadt Alexandria, aber auch Städte in Mittel- und Oberägypten, wie Assiut und Qena. Sie soll etwa 100 000 aktive Mitglieder haben. In allen großen Städten unterhält sie Sozialstationen und Kliniken, allein in Kairo sind es sieben Hospitäler. Berufsverbände wie die der Anwälte, Ärzte und Apotheker sind von ihnen dominiert. Sollte es zu einem Sturz des Regimes kommen, werden Muslimbrüder sicher zu den prägenden Kräften des neuen Ägyptens gehören.

Ihre wahren Ziele sind unklar

In dem rund 50-köpfigen Komitee der „Koalition für Wandel“ sind sie mit mehreren Abgesandten vertreten. Intern hat ihr Generalsekretariat die Losung ausgegeben, während der Phase des Machtübergangs nicht offiziell über die Errichtung einer islamischen Republik am Nil zu reden, um die Menschen im Inland und die Regierungen im Ausland nicht zu alarmieren. So sieht man unter den Demonstranten auffallend wenige koranschwingende Bärtige, die „Islam ist die Lösung“ skandieren. Kritiker werfen der Muslimbruderschaft vor, ihre wahren Ziele zu vertuschen: eine islamistische Verfassung mit Bezug auf die Scharia, mindere Rechte für Frauen und Bruch mit Israel.

Die internen politischen Beratungen der Organisation, die wie eine Geheimloge agiert, sind völlig intransparent. Ideologisch scheint die ägyptische Muslimbruderschaft inzwischen in drei Fraktionen gespalten, die konservativen Ideologen der alten Garde, konservative Pragmatiker, zu denen viele Abgeordnete zählen, sowie eine Handvoll Reformer, die eine offenere Interpretation des Koran befürworten. Welcher Flügel am Ende die Oberhand behält, lässt sich schwer vorhersagen.

Interne Spannungen

Vor einem Jahr entluden sich die internen Spannungen mit dem überraschenden Rücktritt des langjährigen Murscheds Mohamed Akef, dem ersten Rücktritt an der Spitze in der Geschichte der Organisation überhaupt. „Wir wollen nicht die Macht monopolisieren“, versicherte kürzlich ihr Sprecher Essam el-Erian, der der Führungsriege der Islamisten angehört. „Wir wollen ein Klima von fairem Wettbewerb, das uns endlich erlaubt, regulär um die politische Macht zu kämpfen.“

Ägyptisches Totenbuch im Internet

„Ermordet in Ägypten“ hat die amerikanische Menschenrechtsaktivistin Joanne Michele ihr virtuelles Totenbuch genannt, das sich im ägyptischen Netz wie ein Lauffeuer verbreitet. Darin steht Ahmed Ahab Mohamed Fouad Abbas, 29 Jahre. Er wurde am vierten „Tag des Zorns“ auf dem Tahrir-Platz von sechs Gummigeschossen getroffen, drei trafen ins Gesicht. Fünf Tage lag er im Koma, dann starb er in der Klinik. Den Angehörigen wollten die Ärzte die Leiche nur herausgeben, wenn sie seinen Tod offiziell als Autounfall deklarieren. Die Familie weigerte sich, die Lüge zu unterschreiben.

Nüchtern wie in einer Excel-Tabelle sind bisher 58 Schicksale aus Kairo, Alexandria, Mansoura oder Suez in dem online-Totenbuch aufgelistet. Nur Name, Alter, Beruf, To­desort, Todesdatum, Anmerkungen und Foto – ohne Kommentare, die meisten Fotos zei­gen junge Leute, die sich am Strand vergnügen oder mit Schlips für ein Bewerbungsfoto posieren.

Mahmoud Maher war gerade dabei, in der provisorischen Krankenstation auf dem Tahrir-Platz Wunden zu versorgen, als die Mubarak-Horden Mittwoch mit ihren Pferden und Kamelen über die De­monstranten herfielen. Sie prü­gelten den jungen Arzt auf der Stelle tot. Die 23-jährige Künstlerin Sally Magdy Zahran erhielt einen schweren Knüppelschlag auf den Hinterkopf. Sie ging nach Hause, legte sich schlafen und wachte nie wieder auf.

Fast alle auf dem Tahrir-Platz Demonstrierenden sind gezeichnet von den Horrorszenen der letzten Tage. Mindestens 300 Menschen sollen nach Angaben der UN seit Be­ginn der Unruhen ums Leben gekommen sein. Selbst der ägyptische Gesundheitsminister, der bisher alle Statistiken nach Kräften herunterspielte, spricht inzwischen von mehr als 5000 Verletzten.