Berlin. Die SPD ist am Boden. Parteichef Klingbeil will die Partei als neuer starker Mann aufrichten. Damit geht der 47-Jährige ins Risiko.

Lars Klingbeil ist auf den ersten Blick der Typ Schwiegermuttertraum. Entgegenkommend im Umgang, manchmal nachdenklich, zielstrebig. Zu dem freundlichen Image passt Klingbeils Musikgeschmack nur bedingt: Zu seinen Lieblingsbands zählt die US-Punktruppe Rage against the Machine. Die Kalifornier vereinen in ihren Songs brachiale Gitarrenmusik und wutgetränkten Gesang. Eine der berühmtesten Textzeilen der Band lautet: „They say jump, you say: How high?“

Sie sagen spring, du antwortest nur: Wie hoch? Die Textzeile ist Klingbeil vermutlich am Sonntagabend nicht durch den Kopf gegangen. Der 47-Jährige sprang trotzdem, als es darauf ankam. Wie hoch, muss sich noch zeigen. Und ob er auf beiden Füßen landet. Als die SPD-Spitze in einer Krisenrunde das historisch schlechte Wahlergebnis beriet, habe Fraktionschef Rolf Mützenich ihn als seinen Nachfolger vorgeschlagen, berichtet Klingbeil. Seine Entscheidung: „Ich will diese Aufgabe gerne annehmen.“ Klingbeil ist gesprungen. Am Mittwoch soll er von der dramatisch geschrumpften Fraktion gewählt werden.

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SPD-Spitze: Zwischen Klingbeil und Esken verschiebt sich die Macht

Als Partei- und Fraktionsvorsitzender wäre Klingbeil damit vor möglichen Gesprächen mit der Union über eine Regierungsbildung der neue starke Mann in der SPD. Olaf Scholz bleibt als Kanzler noch geschäftsführend im Amt, bis voraussichtlich Friedrich Merz zu seinem Nachfolger gewählt wird. Danach will Scholz einfacher Abgeordneter sein, in der ersten Reihe der SPD wird er keine Rolle mehr spielen. Klingbeils Mitvorsitzende an der Parteispitze, Saskia Esken, sagte trotz des von Klingbeil am Wahlabend ausgerufenen „Generationswechsels“ zwar, im Amt bleiben zu wollen. Doch zwischen den beiden hat sich die Macht jetzt massiv verschoben.

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#9 Lars Klingbeil über seinen Soldatenvater und das Sterben im Krieg

Meine schwerste Entscheidung

Klingbeil mag Gegensätze. Als Sohn eines Unteroffiziers in der niedersächsischen Militärstadt Munster ließ er sich lange Haare wachsen, hatte ein Piercing in der Augenbraue und spielte in einer kleinen Punkband. Noch heute hat er eine Gitarre in seinem Büro in der SPD-Zentrale stehen, ab und zu spielt Klingbeil darauf, wenn er nachdenkt. Viele Freunde und Klassenkameraden waren ebenfalls Soldatenkinder, Klingbeil entschied sich für den Zivildienst in der Bahnhofsmission von Hannover. Nach einer großen Pause hatte ihm ein Mitschüler einmal mit Edding dick „Zivilversager“ aufs Heft geschrieben, wie Klingbeil kürzlich in dem Funke-Podcast „Meine schwerste Entscheidung“ erzählte.

Lars Klingbeil arbeitete einst im Büro von Gerhard Schröder

In der SPD startete der Niedersachse auf dem linken Flügel, dennoch arbeitete Klingbeil von 2001 bis 2003 im Wahlkreisbüro des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Wegen der Nähe Schröders zu Russland ist der Kontakt heute abgebrochen. Inzwischen gehört der Parteichef zu den Seeheimern in der SPD-Bundestagsfraktion, den erklärten Pragmatikern bei den Sozialdemokraten. Mit der Bundeswehr hat der frühere Antifa-Sympathisant seinen Frieden gemacht, heute setzt sich der Sozialdemokrat für eine starke Truppe ein. Wenn es dazu kommen sollte, Deutschland mit der Waffe zu verteidigen, wäre er dabei, sagt der ehemalige Zivi inzwischen.

Zudem ist Klingbeil glühender Fan des FC Bayern München – in der SPD und auch zu Hause keine einfache Wahl. Sein Vater ist Anhänger des Hamburger SV. Nicht ohne Stolz erzählt der Sportfan Klingbeil gerne, dass er Mitglied im Verwaltungsbeirat seines Lieblingsvereins ist. Als die Bayern im Sommer 2023 den britischen Stürmer Harry Kane verpflichteten, kaufte sich Klingbeil ein Trikot des Superstars. „Ich habe ein durch und durch rotes Herz“, scherzte Klingbeil einmal. Der Sozialdemokrat ist seit 2019 mit der fünf Jahre jüngeren Lena-Sophie Müller verheiratet. Die Digitalexpertin ist Geschäftsführerin der gemeinnützigen Initiative D21. Das Paar hat keine Kinder.

SPD-Chef Klingbeil: „Das werden harte Jahre für uns“

Um sich im stressigen Politikeralltag fit zu halten, macht Klingbeil unter anderem Crossfit: eine Fitnessmethode, bei der intensives Kraft- und Ausdauertraining kombiniert werden. Wer zum Crossfit-Training geht, weiß vorher nicht, was auf dem Programm steht. Klingbeil mag die Herausforderung.

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Der SPD-Chef sieht müde aus, als er am Montag die Lage seiner Partei schildert: „Das werden harte Jahre für uns.“ Klingbeil will die Partei organisatorisch, inhaltlich und personell neu aufstellen. Erst einmal muss er aber die am Boden zerstörte SPD für Gespräche mit der Union über eine mögliche Regierungsbildung aufrichten. Dabei wird ihm der bisherige Verteidigungsminister Boris Pistorius zur Seite stehen. Wie es danach weitergeht, ist auch für Klingbeil offen.

Klingbeil: Will er Vizekanzler werden?

Wie hoch kann er springen? Im vergangenen Sommer antwortete Klingbeil auf die Frage, ob er einmal Kanzler werden wolle: „Ich bin total zufrieden, aber ich kann mir noch mehr vorstellen.“ Nun ist der Kanzlerjob in weiter Ferne, aber Klingbeil könnte sich entscheiden, in einer schwarz-roten Koalition Minister und möglicherweise sogar Vizekanzler zu werden. Am Montag wollte sich der SPD-Chef zu entsprechenden Fragen nicht äußern. Erst einmal gehe es darum, ob die SPD überhaupt in eine Regierung eintrete.

Klingbeil will in dieser heiklen Phase die Kontrolle behalten. Allerdings birgt sein Vorgehen auch Risiko. Schließlich ist er als Parteichef mitverantwortlich für das verheerende Wahlergebnis. Dass nun trotzdem alles auf ihn zulaufen soll, könnte ihm in der SPD auch übelgenommen werden. Besonders wenn Klingbeil den Mitgliedern einen Koalitionsvertrag mit der Union zur Abstimmung vorlegen sollte, mit dem die SPD viele Kröten schlucken muss. Wer springt, kann auch stürzen.