Minsk. .

Irina konnte noch rechtzeitig wegrennen. „Lukaschenko hat Angst, unglaubliche Angst“, sagt die junge Computerspezialistin immer noch atemlos. „Vor fünf Jahren saß er zwei Wochen im Bunker und hat in die Hosen gemacht, jetzt prügelt er eben gleich drauf los“.

Tausende von Soldaten und Sicherheitspolizisten hatten kurz zuvor den „Freiheitsplatz“ vor dem Regierungs- gebäude in der weißrussischen Hauptstadt Minsk umzingelt. Die meisten Demonstranten, die gegen den Wahlsieg des Präsidenten Alexander Lukaschenko protestierten, sind inzwischen verjagt, verprügelt oder verhaftet worden. Der Platz mit dem großen Weihnachtsbaum und der gespenstisch verschneiten Leninstatue ist nun leer. Lastwagen laden die ersten Soldaten im eisigen Schneetreiben wieder auf. Der Spuk ist vorbei.

1,8 Prozent für den Gegenkandidaten

„Eine positive Einschätzung dieser Wahl ist nicht möglich“, sagt der Leiter der Wahlbeobachtermission der OSZE, Geert-Hinrich Ahrens, später in Minsk. Von der Wahl gehe nicht der dringend benötigte Neustart für Weißrussland aus, ergänzte sein Kollege Tony Lloyd. „Ich erwarte nun von der Regierung Rechenschaft wegen der Verhaftung von Präsidentschaftskandidaten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten.“

Die Ereignisse nach der Wahl gingen die OSZE nichts mehr an, konterte der weißrussische Autokrat Lukaschenko, der zuvor laut vorläufigem Endergebnis mit 79,7 Prozent der Stimmen zum vierten Mal im Amt bestätigt worden war. Der wichtigste Oppositionspolitiker, der Dichter Uladzimir Niaklajew, soll demnach nur 1,8 Prozent errungen haben. Er wurde bei der Demonstration zusammenknüppelt, kam mit Kopfwunden ins Krankenhaus. Dort wurde er später von Zivilbeamten abgeführt. Wo er sich jetzt befindet, ist unbekannt.

Kameramänner und Auslandsreporter

Unter den Festgenommenen sind russische Kameramänner, ein Reporter der New York Times sowie sieben der neun Oppositionsführer. Nach Angaben der weißrussischen Nachrichtenagentur Belapan wurden etwa 600 Menschen festgenommen, zum Teil in ihren Wohnungen. Die Mannschaft des regimekritischen Internetportals Chartija 97 wurde in ihrer Redaktion verhaftet, andere Websites wurden lahmgelegt.

Westliche Politiker wie der deutsche Außenminister Guido Westerwelle verurteilten das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte. Aber mehrere weißrussische Oppositionskandidaten kritisierten auch ihre Kollegen. Viktor Tereschtschenko erklärte vor Journalisten, einige Kandidaten hätten schon Tage vor der Wahl Pläne besprochen, das Regierungsgebäude gewaltsam zu stürmen. Jaroslaw Romantschuk beklagte, das „extrem unüberlegte Handeln“ der Demonstrationsführer habe der Staatsmacht einen Vorwand geboten, „alle Triebe der Demokratie in den Asphalt zu walzen“. Romantschuk erklärte, die Einsatzpolizei habe die Verteidigung des Regierungsgebäudes trainiert; sie habe wohl geplant, einen Sturm zu provozieren.

Bis zu 15 Jahren Haft

Nach Angaben von Belapan begannen gestern in Minskern Gerichten Schnellverfahren gegen Demonstranten. Für die Anzettelung von Massenunruhen drohen in Weißrussland bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Währenddessen bezweifeln weißrussische Beobachter, dass die Opposition Lukaschenkos Sieg zu Recht an­zweifelt. „Wir haben mehrere Wahllokale in Minsk be­sucht“, sagt der Fotograf Wladimir Wassiljew, der einen russischen Wahlbeobachter be­gleitete. „Dort haben 45 bis 60 Prozent für Lukaschenko gestimmt.“ Die Hauptstadtbürger aber betrachteten Lu­kaschenko viel kritischer als die Wähler in der Provinz. „Dort sind 80 Prozent für Lu­kaschenko völlig realistisch.“