Düsseldorf. Abnehmende Parteibindung und das neue Wahlrecht sorgen dafür, dass in NRW viele Wahlkreise besonders umkämpft sind. Wo es knapp wird.
Die nordrhein-westfälische Wahlkreiskarte erwies sich lange als verlässliches Chamäleon. Gewann die SPD eine Bundestagswahl, färbten sich viele der insgesamt 64 NRW-Wahlkreise rot. Lag hingegen die Union im Wettstreit ums Kanzleramt vorn, zeigte sich die Landschaft weitgehend schwarz.
Ausgenommen vom Wechselspiel der Parteifarben blieben lediglich jene Hochburgen, die jedem Bundestrend Stand zu halten schienen: das Kern-Ruhrgebiet und Teile von Ostwestfalen in SPD-Hand, das Münsterland und Sauerland als ewige CDU-Bastion. Inzwischen ist es deutlich komplizierter geworden.
Bei der Bundestagswahl 2021 gewannen erstmals die Grünen vier Direktmandate: in Aachen, Köln, Bonn und Münster. Die Strategen von CDU und SPD mussten lernen, dass es in Zeiten nachlassender Parteibindung keine Erbhöfe mehr gibt und das jahrzehntelange Erststimmen-Abo der sogenannten „Volksparteien“ ausgelaufen ist.
Die Europawahlen 2024 ließen sogar das Potenzial eines weiteren neuen Akteurs aufscheinen: Die in Teilen rechtsextreme AfD erzielte in einigen Stimmbezirken des Ruhrgebiets Ergebnisse von 20 Prozent und mehr. Seither stellen sich viele die bange Frage: Ist es nur eine Frage der Zeit, bis in NRW erstmals ein Bundestagswahlkreis an einen AfD-Kandidaten fällt?
Mit der Wahlrechtsreform werden Überhang- und Ausgleichmandate abgeschafft
Die Kampagnenplaner können in NRW nicht mehr so leicht „Battlegrounds“ definieren, also umkämpfte Wahlkreise, in die besonders viel Parteiprominenz und Werbemitteleinsatz geschickt werden. Die Verkleinerung des künftigen Bundestags auf 630 Sitze erschwert ebenfalls die strategische Schwerpunktsetzung.
Mit der Wahlrechtsreform werden erstmals Überhang- und Ausgleichmandate abgeschafft. Bislang zogen Wahlkreisgewinner auch dann in den Bundestag ein, wenn ihrer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich weniger Sitze zustanden. Damit das Gesamtverhältnis im Parlament wieder stimmte, bekamen die andere Fraktionen dafür Ausgleichsmandate - die an Listenkandidaten gingen.
Am 23. Februar wird erstmals ein Bundestag gewählt, in dem selbst Kandidaten, die ihren Wahlkreis gewinnen, nicht automatisch einen Parlamentssitz garantiert bekommen. Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, gehen diejenigen Kandidaten mit dem prozentual schlechtesten Wahlkreisergebnis leer aus.
Es wird damit gerechnet, dass vier oder fünf NRW-Wahlkreisgewinner so am Ende gar nicht in den Bundestag einziehen könnten. Vorbei also die Zeiten, als Parteien einzelne „sichere Wahlkreise“ gedanklich frühzeitig abhaken konnten.
Die Grünen wiederum könnten zwei ihrer NRW-weit vier Direktmandate schon wieder verlieren
Eine ganze Reihe an Duellen in NRW wird von den Parteispitzen mit besonderer Spannung beobachtet. So gilt der Wahlkreis Mülheim-Essen I als umkämpft. Beim letzten Mal hat ihn SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler gewonnen, diesmal werden auch Astrid Timmermann-Fechter (CDU) Chancen eingeräumt. Eng werden könnte es auch im Wahlkreis Recklinghausen I, wo es Frank Schwabe (SPD) mit Michael Breilmann (CDU) zu tun bekommt.
Als „Battleground“ gilt auch Hamm-Unna II, wo Michael Thews (SPD) seinen Wahlkreis gegen Arnd Hilwig (CDU) verteidigen muss. Ihr womöglich NRW-weit bestes Erststimmen-Ergebnis könnte die AfD mit Sascha Lensing im Wahlkreis Duisburg II holen, auch wenn hier der Parlamentarische Staatssekretär Mahmut Özdemir die jahrzehntelange SPD-Hochburg halten dürfte. Mit einer immer stärkeren AfD hat es in Gelsenkirchen auch Markus Töns (SPD) zu tun, der aktuellen Prognosen zufolge das Mandat aber verteidigen sollte.
Die Grünen wiederum könnten zwei ihrer NRW-weit vier Direktmandate schon wieder verlieren. In Bonn liegt die Bundestagsabgeordnete Kathrin Uhlig (Grüne) hinter dem in der Corona-Pandemie bekannt gewordenen Virologen Hendrik Streeck, der für die CDU in den Bundestag strebt.
Den Wahlkreis Aachen I könnte der ehemalige NRW-Ministerpräsident, Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat Armin Laschet für die CDU zurückholen. Der letztmalige Gewinner Oliver Krischer (Grüne) ist wenige Monate nach seinem fulminanten Sieg im Sommer 2022 als Umwelt- und Verkehrsminister nach NRW gewechselt. Für die Grünen tritt nun Lukas Benner gegen Laschet an.
Auch in Münster wird es für die Grünen trotz einer breiten Anhängerschaft kein Selbstläufer, das Direktmandat zu verteidigen. Bundestagsfraktionsvize Maria Klein-Schmeink tritt nicht erneut an, so dass Sylvia Rietenberg den Bundestagssitz gegen CDU-Mann Stefan Nacke gewinnen muss. Interessant werden könnte es auch in Bielefeld-Gütersloh II, wo Wiebke Esdar ihren Wahlkreis gegen Katharina Kotulla (CDU) und Grünen-Bundestagsfraktionschefin Britta Haßelmann verteidigen will. Die Co-Sprecherin der NRW-Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion hatte zu den prominentesten Kanzler-Kritikerinnen gehört, die Amtsinhaber Olaf Scholz noch im November keine erneute Kandidatur zugestehen wollten.
Als „Battleground“ gilt traditionell Nordrhein-Westfalens einzige Millionenstadt Köln, wo die Parteiprominenz von CDU, SPD und Grünen um die Direktmandate kämpft. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich muss sich gegen seine grüne Kollegin Katharina Dröge behaupten. Im benachbarten Wahlkreis Köln II will der grüne Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, seinen Sieg von 2021 gegen CDU-Herausforderer Daniel Otte vereidigen. Im Wahlkreis Köln I unternimmt die ehemalige NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler einen neuen Anlauf, der Bundestagskollegin Sanae Abdi das Direktmandat streitig zu machen. Derweil hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach gute Aussichten, seinen Wahlkreis Köln IV-Leverkusen zu verteidigen. Abgesichert über die Landesreserveliste ist er nicht.