Jerusalem. Dieses mal kann die Folter nicht geleugnet werden. Doch Israels Premier Benjamin Netanjahu spielt auf Zeit – und mit Menschenleben.
Der Anblick der am Samstag befreiten israelischen Geiseln aus Hamas-Gewalt sollte nun endgültig auch jene Zyniker verstummen lassen, die meinten, es sei den Israelis in Hamas-Gewalt doch ganz gut gegangen – schließlich hatten die jungen Frauen, die die Folter der Terroristen überlebten, rein äußerlich keine Narben davongetragen. Und wenn doch, dann mit einem Lächeln.
Diesmal kann die Folter wenigstens nicht mehr geleugnet werden. Die Bilder der drei Männer, allesamt stark abgemagert, blass und geschwächt, deuten auf schlimmste Zustände hin. Und sie sollten ein Weckruf sein: Jeder weitere Tag unter solch unmenschlichen Bedingungen könnte weitere Geiseln das Leben kosten.
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Der israelischen Öffentlichkeit ist das schmerzlich bewusst. Über fast alle politischen Strömungen hinweg herrscht nun Einigkeit, dass die Rückkehr aller Geiseln, ob lebend oder tot, nun Vorrang haben muss – auch auf Kosten des oft beschworenen „vollständigen Siegs“ über die Hamas.
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Und selten wurde klarer, mit welchem Maß an Abgehobenheit Israels Premier Benjamin Netanjahu inzwischen das Land regiert. Anstatt jetzt noch mehr Tempo in die Rückholung der Geiseln zu bringen, spielt er auf Zeit – und er spielt somit letztlich mit Menschenleben. Es ist eine eiskalte Kalkulation: Netanjahu weiß, dass diese Regierungsperiode seine letzte ist, er muss nicht mehr das Einvernehmen suchen und um Wählerstimmen werben. Er muss nur das Schiff vor dem Sinken bewahren. Anders, als man es von einem Regierungschef erwarten sollte, ist dieses Schiff nicht der Staat Israel – sondern einzig und allein Netanjahus Koalition.