Berlin.. Die ukrainische Regierung will Kriegsflüchtlinge in Deutschland zur Rückkehr bewegen. Warum der Druck zunimmt, aber Betroffene zögern.

Der russische Angriff auf ein Kinderhospital in Kiew gilt bis heute als besonders abscheuliches Kriegsverbrechen: Eine Rakete traf das größte Kinderkrankenhaus der Ukraine, zwei Menschen starben, über 30 wurden verletzt. Das Bild von kleinen Krebs- und Dialysepatienten vor den rauchenden Trümmern zeigte im vergangenen Jahr nicht nur die Grausamkeit der russischen Angreifer – es ist auch zum Symbol geworden für eine andere, lautlose Bedrohung, die die Zukunft der Ukraine gefährdet. Der russische Zermürbungskrieg trifft die junge Generation der Ukraine schwer. Dem Land gehen die Kinder aus. Die Geburtenrate ist so stark abgesunken wie sonst kaum irgendwo auf der Welt.

Gleichzeitig sind seit Kriegsbeginn knapp sieben Millionen Menschen aus dem Land geflüchtet, seit 2014 hat die Ukraine sogar zehn Millionen Einwohner verloren – ein Viertel der Bevölkerung. Da tickt eine Zeitbombe: „Die Ukraine wird von einer ernsten demografischen Krise erschüttert“, sagt Florence Bauer, die Osteuropa-Direktorin des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA. Lange nach einem Friedensschluss werde diese Wunde bleiben, Generationen werden die Folgen zu spüren bekommen.

Russian Missile Attack on Ukraines Cities - 08 Jul 2024
Ein Arzt trägt ein Kind aus der Kinderklinik Okhmatdyt in Kiew, nachdem das Gebäude von einer russischen Rakete getroffen worden war. Der Angriff auf das Kinderhospital im Juli 2024 unterstreicht eine langfristige Bedrohung der Ukraine: Das Land erlebt eine demografische Krise. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Aleksandr Gusev

Jetzt zieht die Regierung in Kiew die Notbremse und versucht, Millionen Kriegsflüchtlinge und andere Auslands-Ukrainer auch aus Deutschland zurück in die Heimat zu holen. Kurzfristig, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt und in der Armee zu schließen. Mittelfristig für den Wiederaufbau. Vorigen Monat wurde dafür das Amt eines neuen „Ministers für nationale Einheit“ geschaffen.

Vize-Premier Oleksij Tschernyschow, langjähriger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, soll die Landsleute im Ausland vereinen, ihre Beziehung zur Ukraine stärken – und ihnen Angebote für die Rückkehr machen. „Eine beträchtliche Anzahl von Ukrainern erwägt ernsthaft, in die Heimat zurückzukehren“, versicherte Tschernyschow in Berlin, als er vor Kurzem der Bundesregierung und Landsleuten sein Anfangsprojekt vorstellte: In Berlin will die Ukraine in Kürze ein erstes Einheitszentrum („Unity Hub“) eröffnen, das die Verbindung zwischen Auslands-Ukrainern und ihrem Heimatland stärken, sie bei Rückkehrplänen beraten, Ängste nehmen und Jobs in der Heimat vermitteln soll.

Ukraine: Den Rückkehrern gibt der Einheitsminister eine Garantie

Angesichts des Bevölkerungsschwunds würden vor allem in der Rüstungsproduktion, im Energiesektor und beim Wiederaufbau Arbeitskräfte benötigt, sagte der Minister. Wer als Rückkehrer in diesen „kritischen Branchen“ arbeite, werde vom Militärdienst zurückgestellt. „Wenn sie also in einem Kraftwerk arbeiten, werden sie nicht einberufen, sie haben eine Garantie“, erläuterte Tschernyschow. Der frühere Chef des staatlichen Energieriesen Naftogaz ist auch schon in Polen und Tschechien unterwegs, den anderen beiden Ländern mit vielen Geflüchteten aus der Ukraine, aber hierzulande wirbt der Minister besonders: Von den 4,1 Millionen Ukrainern, die in der EU Schutz suchen, leben aktuell 1,24 Millionen in Deutschland, mit leicht steigender Tendenz. Das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren, fast ein Viertel sind Kinder und Jugendliche.

Deutschland, Berlin - Ukraine-Krieg: Ankunft von ukrainischen Fluechtlingen Berlin Hauptbahnhof
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bei ihrer Ankunft am Berliner Hauptbahnhof. © picture alliance / Caro | Matzel

Die Bundesregierung sagte dem Minister Unterstützung beim Aufbau der „Unity Hubs“ zu, die auch Hilfestellung für das Leben in Deutschland geben sollen. Das Entwicklungsministerium hilft bereits jetzt freiwilligen Rückkehrern bei der Suche nach Wohnraum, Arbeit und Ausbildung. Doch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) versprach den Ukrainern bei Tschernyschows Besuch auch: „Sie werden bei uns auch weiter in Sicherheit sein, solange der Krieg andauert.“

Ein Selbstläufer wird die Heimhol-Aktion so wohl nicht. Von den knapp 500.000 männlichen ukrainischen Geflüchteten in Deutschland ist etwa die Hälfte im wehrpflichtigen Alter, sie müssten bei der Rückkehr damit rechnen, zum Kriegsdienst an der Front einberufen zu werden. In Flüchtlingsgruppen hierzulande ist nach Tschernyschows Visite aber auch von fehlender Sicherheit die Rede und von mangelnder Perspektive. Die Migrationsexpertin des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Yvonne Giesing, sagt: „Je länger der Konflikt andauert, desto mehr Geflüchtete können sich eine Zukunft außerhalb der Ukraine vorstellen.“

Studie: Ein Viertel der ukrainischen Flüchtlinge will auf jeden Fall in Deutschland bleiben

Eine kürzlich vom Ifo-Institut vorgelegte Untersuchung zeigt, dass ein Viertel der ukrainischen Kriegsflüchtlinge bestimmt hier bleiben wollen – ihr Anteil steigt kontinuierlich an. „Rund 35 Prozent wollen in die Ukraine zurückkehren, sobald es dort wieder sicher ist“, so die Studie. Viele sind noch unentschlossen, nur vier Prozent planen eine baldige Rückkehr, unabhängig von der Sicherheitslage. Angesichts ihres relativ hohen Qualifikationsniveaus könnten die Ukrainer auch hierzulande helfen, Fachkräftelücken zu schließen, so das Ifo-Gutachten.

Wissenschaftler des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) sind zu einem ähnlichen Befund gekommen: Vor allem Flüchtlinge mit qualifizierter Berufsausbildung, die schnell am Arbeitsmarkt Fuß fassen, können sich einen Verbleib im Aufnahmeland inzwischen eher vorstellen, heißt es in einer SVR-Studie. Das Problem: „Genau diese Personen wären vermutlich auch Stützen des Wiederaufbaus, die aus der Perspektive der Ukraine unbedingt zur Rückkehr motiviert werden sollten.“ Deutschland und andere Aufnahmestaaten stünden vor einem Dilemma: Sie hätten in die Kriegsflüchtlinge investiert und ein Interesse, dass erfolgreich Integrierte eine Bleibeoption erhalten. Gleichzeitig müssten sie „das berechtigte Anliegen der Ukraine nach einer Rückkehr ihrer Bevölkerung berücksichtigen“.

Ukraine Ankunftszentrum (UA-TXL)
Ein Ankunftszentrum für Ukraineflüchtlinge aus der Ukraine in Berlin. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Womöglich hilft der Ukraine, dass sich die Stimmung in Deutschland verschlechtert. Es sorgt für Debatten, dass hierzulande erst knapp 30 Prozent der Ukraineflüchtlinge eine reguläre Beschäftigung aufgenommen haben. CDU und CSU wollen für ankommende Flüchtlinge das Bürgergeld streichen und nur noch niedrigere Leistungen für Asylbewerber auszahlen. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Alexander Dobrindt, will sogar Kriegsflüchtlinge in die Ukraine zurückzuschicken, wenn sie in Deutschland keine Arbeit aufnehmen. Die Regierung in Kiew signalisiert Wohlwollen zu solchen Vorschlägen, schon allein wegen des akuten Personalmangels in der Armee. Bis zu 100.000 ukrainische Soldaten sind nach Schätzung von Militärexperten gefallen.

Der Blick in die Zukunft ist düster. Experten der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine sagen voraus, dass die Bevölkerungszahl bis 2041 auf 29 Millionen und bis 2050 sinken auf nur noch 25 Millionen wird. Dabei schätzt das ukrainische Wirtschaftsministerium, dass gleichzeitig für den Wiederaufbau in den nächsten Jahren bis zu 4,5 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte benötigt werden. Die Zeit läuft. Die Regierung in Kiew warnt in ihrer neuen Demografie-Strategie: „Je länger die bewaffnete Aggression andauert, desto geringer ist der Anteil derjenigen, die wahrscheinlich zurückkehren werden.“

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Kinder im Ukraine-Krieg: Zuflucht im Keller

Im Krisenmodus