London. Wer in Großbritannien derzeit ins Krankenhaus muss, erlebt düstere Szenen. Die Versorgung ist auf einem neuen Tiefpunkt angekommen.

Die Winterkrise hat den britischen Gesundheitsdienst mit voller Wucht getroffen. Viele Patienten müssen in den Korridoren behandelt werden, weil es an Platz mangelt. „Ich musste einem gebrechlichen, dementen Patienten mit Inkontinenz neben einem Verkaufsautomaten im Krankenhausflur die Kleider wechseln“, berichtet eine Pflegefachkraft. Eine andere beschreibt, wie sie sich um mehrere Patienten kümmerte, die auf Rollbetten im Korridor lagen oder auf Stühlen saßen, weil in den Krankenzimmern nicht genügend Betten frei waren. „Ich musste Kollegen oder Angehörige bitten, Decken hochzuhalten, um ihnen ein bisschen Privatsphäre zu geben.“

Tausende Pflegerinnen und Pfleger in britischen Krankenhäusern machen dieser Tage solche Erfahrungen: Patienten – in manchen Fällen mehrere Dutzend – liegen stundenlang in den Fluren oder in kalten Wartezimmern, haben keinen Zugang zu Sauerstoffflaschen oder anderen medizinischen Geräten, oft können sie nicht mal eine Toilette benutzen. Viele werden mitten im Gewusel des Krankenhausbetriebs behandelt, manchmal wird die lebensrettende Herz-Lungen-Reanimation im Korridor und vor den Augen der anderen Patienten verabreicht. In einem Fall musste ein Pfleger ein Elektrokardiogramm in einem Lagerraum vornehmen. Manche Patienten sterben im Krankenhausflur.

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Der Royal College of Nursing (RCN), der Fachverband der Pfleger, spricht von einer „Krise der Korridorpflege“. Er hat die prekäre Situation in einem letzte Woche publizierten Bericht zusammengefasst – die oben zitierten Schilderungen stammen aus diesem Dokument. Für den Bericht wurden Ende Dezember und Anfang Januar 5400 Pflegerinnen und Pfleger im ganzen Land befragt. Annähernd 67 Prozent sagen, dass sie Patienten täglich unter „unsicheren Bedingungen“ behandeln müssen. Ein Londoner Krankenhaus hat sogar eine Stelle als „Korridorpfleger“ ausgeschrieben. Ein anderes Spital im Osten der Hauptstadt musste in den vergangenen Wochen 19 zusätzliche Pfleger rekrutieren, um den Andrang an Patienten zu bewältigen; die Notaufnahme ist auf 325 Patienten pro Tag ausgelegt – heute sind es manchmal mehr als doppelt so viele.

A&E wait times
Ealing Hospital in London: Die Zahl der Patienten, die zwölf Stunden auf eine Behandlung warten mussten, hat sich binnen drei Jahren um mehr als 500 Prozent gesteigert. Das offizielle Ziel liegt bei maximal vier Stunden Wartezeit. © picture alliance / empics | Jeff Moore

Gesundheitsdienst NHS ist überlastet und steckt in einer tiefen Krise

Es sei „schockierend“, dass solche Zustände als neue Norm akzeptiert werde, sagt Nicola Ranger, Vorsitzende des RCN. Dass Korridorpflege so verbreitet geworden ist, sei eine direkte Folge des „Unwillens der Regierungen, den [Gesundheitsdienst] NHS und die Sozialfürsorge zu reformieren und in die Belegschaft zu investieren“, sagt Ranger. Die Pflegerinnen und Pfleger trügen die Hauptlast dieses Versagens.

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Dass der NHS überlastet ist und in einer tiefen Krise steckt, ist nichts Neues. Seit Jahren verschlimmert sich der Zustand der Pflege in britischen Krankenhäusern. Im September kam ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht über den NHS in England zum Schluss, dass der Gesundheitsdienst „in ernsten Schwierigkeiten“ ist; insbesondere die Notfallversorgung befinde sich in einem „schrecklichen Zustand“. Der Hauptgrund sei die Unterfinanzierung im Zug der Austeritätspolitik ab 2010. Die Folge: Überall fehlt es an klinischem Personal und an Ausrüstung, zudem sind Teile der Infrastruktur baufällig. In jedem Winter, wenn die saisonalen Krankheiten zu einem Anstieg der Hospitalisierungen führen, spitzt sich diese Krise zu.

In diesem Jahr ist die winter crisis besonders schlimm. Eine außergewöhnlich heftige Grippewelle ist in den vergangenen Wochen durch die britische Bevölkerung geschwappt und hat den Druck auf dem NHS erhöht. Im Dezember vervierfachte sich die Zahl der Patienten, die mit Influenza ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Anfang Januar lagen dreimal so viele Grippe-Patienten in Spitälern wie im selben Monat vor einem Jahr.

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Anfang Januar mussten mehr als ein Dutzend Krankenhäuser den Notstand ausrufen

Verschärft wird die Lage durch den Ausbruch weiterer Atemwegserkrankungen sowie ein von Norovirus-Infektionen; beide haben ebenfalls zu vielen Hospitalisierungen geführt. Anfang Januar mussten mehr als ein Dutzend Krankenhäuser einen Notstand ausrufen, weil der Andrang an Patienten so hoch war. Die Krankenhäuser im ganzen Land seien unter „außergewöhnlichem Druck“, sagte Stephen Powis, der medizinische Direktor des NHS, kürzlich. Es fühle sich zuweilen an „wie manche Tage auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie.“

Allerdings begann die Krise der Korridorpflege schon lange vor dem Wintereinbruch. Bereits im Juni warnte der RCN, dass immer mehr überbelegte Krankenhäuser Patienten unter improvisierten Bedingungen behandeln müssen, im Flur oder manchmal sogar in Parkhäusern. Der RCN sprach damals von einem „nationalen Notstand“.

Adrian Boyle, der Präsident des Notfallarztverbands Royal College of Emergency Medicine, sagte letzte Woche, dass der RCN-Bericht einen „Wendepunkt“ darstellen müsse. Er sei „schockiert und entsetzt“, dass die klinischen Fachleute gezwungen seien, ihren Patienten eine solch miese Qualität der Pflege zu bieten. Er forderte die Regierung auf, sich dringend darum zu kümmern, den NHS wieder auf Vordermann zu bringen.

Gesundheitsminister Wes Streeting versprach letzte Woche, er werde dafür sorgen, dass die Korridorpflege bald „der Geschichte angehört.“ In Kürze werde er einen Plan für die Verbesserung der Notfallpflege vorlegen. Die Labour-Regierung hat zudem eine längerfristige Reform des staatlichen Gesundheitsdiensts angekündigt – die Strategie soll im Frühjahr publiziert werden. Allerdings dämpft Streeting die Erwartung, dass sich schnelle Verbesserungen einstellen werden: „Ich kann nicht versprechen, dass es nächstes Jahr keine Patienten gibt, die in den Korridoren behandelt werden“, sagte er.