Düsseldorf. Zwei neue Bücher über Friedrich Merz vermessen den Kosmos des wahrscheinlich nächsten Kanzlers aus NRW - und schenken neue Einsichten.

Wer einen Grund sucht, warum die meisten Deutschen auch wenige Wochen vor der Bundestagswahl noch immer mit dem wahrscheinlich nächsten Kanzler Friedrich Merz fremdeln, wird vielleicht im Simi Valley an der amerikanischen Westküste fündig.

Die dortige „Ronald Reagan Presidential Library“ unweit des Pazifiks zu Ehren des ehemaligen US-Präsidenten ist einer der Lieblingsorte des CDU-Vorsitzenden. Vor allem ein in Stein gemeißeltes Reagan-Zitat gefällt ihm. Übersetzt lautet es: „Die neun schrecklichsten Wörter im Englischen sind: ‚Ich bin von der Regierung und hier, um zu helfen‘.“

So hat es Merz dem Journalisten Volker Resing vom Monatsmagazin „Cicero“ erzählt, der jetzt im Herder-Verlag eine neue Biografie über den 69-jährigen Sauerländer veröffentlicht hat. Merz‘ Staatsskepsis, seine oft ungestüme Individualität, dieser selbstgewisse Sendungs- und Veränderungsdrang – all das wirkt doch ziemlich konträr zur „German Angst“ eines Wahlvolks, das mehrheitlich eine integrative, fürsorgliche Bundesregierung wünscht und die Behaglichkeit von Maß und Mitte bevorzugt.

Merz‘ Staatsskepsis und die Angst der Deutschen

Resing hat mit wichtigen Protagonisten des Berliner Politik-Betriebs gesprochen und sortiert auf gut 200 Seiten noch einmal diese ganz und gar ungewöhnliche Comeback-Geschichte des Friedrich Merz. Eines Mannes, der schon vor 30 Jahren in einer Arbeitsgruppe des damaligen Kanzlers Helmut Kohl zur Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung saß, die noch gar nicht „Euro“ hieß. Leitkultur, Bierdeckel-Steuer, das Manifest „Mehr Kapitalismus wagen“ – es ist eine Zeitreise durch den Merz’schen Kosmos.

Volker Resing: „Friedrich Merz. Sein Weg zur Macht“, erscheint am 13. Januar 2025 im Herder-Verlag. 224 Seiten, 22 Euro.
Volker Resing: „Friedrich Merz. Sein Weg zur Macht“, erscheint am 13. Januar 2025 im Herder-Verlag. 224 Seiten, 22 Euro. © herder verlag | Herder Verlag

Dass der CDU-Chef mit fast 70 davor steht, der zehnte Bundeskanzler dieser Republik und mithin der erste aus NRW seit Konrad Adenauer zu werden, wäre ohne seine Gegenspielerin nicht vorstellbar. Resing beschreibt, wie Angela Merkel trotz aller Erfolge in der Union „so etwas wie die angeheiratete Stiefmutter“ geblieben sei. Merz hingegen hielt sich über fast zwei Jahrzehnte als konservative Projektionsfläche und „CDU-eigener Haus- und Hof-Kritiker der Kanzlerin“ im Gespräch. Während die nüchterne Mutti Merkel den Deutschen möglichst nichts zumuten wollte, lebt der pointiert-emotionale Redner Merz vom unbeirrbaren Glauben an die klare Ansage.

Haus- und Hofkritiker der Kanzlerin

Dabei seien Merz wie Merkel gleichermaßen „Solitäre“, die nicht dem parteipolitischen Urschleim entstammten und von ihrer enormen politischen Analysefähigkeit zehrten. Resing nimmt seinen Protagonisten gegen zahlreiche Klischeebilder in Schutz. Zwar sei er ein Mann des „Erstens, zweitens, drittens“, der sich in seinem Ferienhaus am Tegernsee gerne mit Wirtschaftskapitänen umgibt. „Der Manager Merz wird auch im Kanzleramt sichtbar sein“, schreibt Resing. Zugleich habe er schon zu seinem 50. Geburtstag, als er gar nicht mehr in der Öffentlichkeit stand, eine private Stiftung zur Förderung sozialer Zwecke im Hochsauerlandkreis gegründet.

Merz ist demnach auch nicht der rückwärtsgewandte Chauvi, als der er gern beschrieben wird. Resing fächert auf, wie er und seine Frau Charlotte schon während des Jura-Studiums Kinder großgezogen haben und auf Gleichberechtigung bei der Berufsausübung Wert legten, als in der CDU noch das Hausfrauen-Modell verfochten wurde. Merz wird uns als reflektierter Familienmensch nähergebracht, dem die Härten des Politiker-Berufs für seine Kinder bewusst sind und der seinen 101-jährigen Vater als Richter und Vorbild verehrt. Die Auflösung der Schamgrenze zwischen Privatem und Politik durch die ungenierte Zeigefreude vieler jüngerer Kollegen in den sozialen Netzwerken ist ihm fremd.

Wüst als Kugelschreiber-Verkäufer der Politik

Der stärkste Teil des Buches befasst sich mit den Merz-Jahren in Aufsichtsräten, die ihn nicht nur zum Mitglied der „gehobenen Mittelschicht“ machten, wie er 2018 einmal sagte, sondern zum veritablen Vermögensmillionär mit Privatflugzeug. Resing seziert die Tätigkeit eines Politik-Aussteigers in diversen Aufsichtsräten, den der Börsengang des Schweizer Unternehmens Stadler Rail einst reich machte. Es klingen Zweifel an, ob die behauptete Trennschärfe zum Lobbyismus gewahrt blieb. Nicht nur Resing fragt sich, warum ein „Ex-Politiker mit Expertise, aber ohne große sichtbare Erfahrung in ökonomischen Dingen, plötzlich ein hoch gehandelter Wirtschaftsanwalt“ wurde.

Obwohl das Buch seinem Protagonisten gewogen scheint, sickert die Ungewissheit durch, wie der in Regierungsämtern völlig unerfahrene Merz die „Trägheit von Strukturen und Systemen in Deutschland und Europa“ ertragen will. Die Langwierigkeit der Kompromisssuche und die Fähigkeit, den Fortschritt auch als Schnecke wertzuschätzen, wirken herausfordernd für seine Persönlichkeit.

Sara Sievert: „Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union“, erscheint am 13. Januar 2025 im Rowohlt-Verlag. 253 Seiten, 24 Euro.
Sara Sievert: „Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union“, erscheint am 13. Januar 2025 im Rowohlt-Verlag. 253 Seiten, 24 Euro. © Rowohlt | Rowohlt

Einen anderen Blick auf Merz wirft die Journalistin Sara Sievert vom Portal „t-online“, die bei Rowohlt zeitgleich das Buch „Der Unvermeidbare“ veröffentlicht. Es ist keine Biografie und kein Porträt im engeren Sinne. Im Reportage-Stil führt uns die Autorin vielmehr als Ich-Erzählerin durch die verrückten Ampel-Jahre, die Merz schließlich in die Kanzlerkandidatur hieven. Wer gern hinter die Kulissen des Hauptstadt-Betriebs guckt, wird seine Freude an der Szenerie haben.

Sievert zeichnet nach, wie Merz mit dem Polit-Rabauken Markus Söder kämpft und die Geringschätzung durch Olaf Scholz nur schwer verwindet. Wie er sein „Frauenproblem“ und das 90er-Image abzuschütteln versucht und sich mit der lächelnden Verschlagenheit von „Schwiegermamas Liebling“ Hendrik Wüst herumärgern muss. Die Autorin lässt uns an interessanten Begegnungen teilhaben wie etwa jener mit dem inzwischen verstorbenen Wolfgang Schäuble. Im Gespräch mit NRW-Ministerpräsident Wüst gräbt sie eine wahre Perle aus.

Wüst offenbart Sievert darin sein Politikverständnis am Beispiel eines Kugelschreiber-Vertreters: „Passen Sie auf, es ist so: Sie kriegen die Menschen nicht dazu, einen Kugelschreiber zu kaufen, indem Sie ihnen den Stift nur vor die Nase halten. Sondern mit der Wertschätzung ihrer Gedanken, die es wert sind, mit diesem Kugelschreiber aufgeschrieben zu werden.“

Man hat unweigerlich Friedrich Merz vor dem geistigen Auge, der ruft: „Kugelschreiber raus, Klassenarbeit!“