Moskau/Berlin. Auf dem Weg nach Tschetschenien stürzt eine Maschine von „Azerbaijan Airlines“ ab. Manche sehen Indizien für einen irrtümlichen Abschuss.
Die Aufnahmen, die ein Mensch am Boden mit dem Handy macht, sind beängstigend: Das Flugzeug der „Azerbaijan Airlines“ sinkt mehrfach Richtung Boden, steigt dann wieder auf, in die Luft über Kasachstan. Irgendwann aber fliegt die Maschine vom Typ „Embraer E190“ nur noch steil Richtung Erde – und zerschellt. Das Video zeigt, wie das Heck abbricht, ein Feuerball steigt auf.
Die gute Nachricht: 29 Menschen haben den Flugzeugabsturz überlebt, teils allerdings schwer verletzt. Die bittere Nachricht: 38 Menschen starben. Unter den Verletzten sind unter anderem russische, aserbaidschanische und kirgisische Staatsangehörige. Die Crew war unterwegs von der aserbaidschanischen Metropole Baku nach Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus. Bei der Stadt Aktau, direkt an der Küste des Kaspischen Meeres, stürzte der Flieger ab.
Im Mittelpunkt steht nun die Frage, warum die Passagiermaschine abstürzte. Mehrere Szenarien sind denkbar – und doch wird eines immer wahrscheinlicher.
Szenario 1: Vogelschlag brachte den Flieger vom Typ „Embraer E190“ zum Absturz
Laut Funksprüchen zwischen Tower und Piloten ist bekannt, dass die Besatzung zunächst von einem Vogelschlag ausging. Dieser könnte die Triebwerke beschädigt haben. Laut dem ZDF berichtete zunächst auch die russische Zivilluftfahrtbehörde Rosaviatsia „vorläufigen Angaben“ zufolge darüber, dass ein „Vogelschlag“ den Piloten zur Landung gezwungen habe.
Dass allein Vögel die Steuerung eines Flugzeugs so stark beeinträchtigen, gilt Fachleuten als sehr unwahrscheinlich. Moderne Flieger sind gegen solche Vorfälle technisch geschützt, auch wenn sie durchaus gefährlich sein können. Die Fluggesellschaft zog die Angabe zum Vogelschlag später zurück. Wenig spricht für dieses Szenario.
Mutmaßliche Videoaufnahmen aus dem Inneren des „Embraer E190“ noch vor dem Absturz zeigen, wie Teile des Flügels beschädigt sind. Im Inneren hängen Sauerstoffmasken über den Sitzen der Passagiere. Unklar ist, ob es in dem Flugzeug einen Druckabfall gegeben hat. Die Aufnahmen lassen sich nicht verifizieren.
Szenario 2: Abschuss durch eine russische Drohnen-Abwehrrakete
Die These vom irrtümlichen Abschuss durch die russische Luftabwehr steht im Raum – und gewinnt am Donnerstagnachmittag an Dynamik. Angeblich geht die aserbaidschanische Regierung davon aus, dass ein Geschoss der russischen Luftabwehr unmittelbar neben dem Flugzeug explodiert sei und die Maschine schwer beschädigt habe. Beim Anflug auf Grosny sei der Flieger von einer Flugabwehrrakete des Typs Panzir S getroffen worden. Das berichten aserbaidschanische Medien, die Nachrichtenagentur Reuters sowie der TV-Sender „Euronews“.
Mehrere Aspekte sind in diesem Szenario relevant. Zum einen meldeten lokale Medien für diesen Tag ukrainische Drohnenangriffe auf Tschetschenien. Nicht zum ersten Mal greift das ukrainische Militär Ziele im Kaukasus an. Die russische Flugabwehr ist seit Wochen in Alarmbereitschaft.
Einer der Überlebenden sagte russischen Medien, die Piloten hätten dreimal versucht, das Flugzeug in Grosny zu landen. „Beim dritten Mal explodierte etwas. Es gab eine Explosion – ich würde nicht sagen: im Flugzeug.“
Zudem, so meldete es der unabhängige russische Sender „Doschd“, sei der Landeanflug der Maschine durch Störsender beeinträchtigt gewesen – eine gängige Taktik bei der Drohnenabwehr. Digitale und analoge Signale werden dabei gestört, um Drohnen vom Kurs abzubringen. Die Störungen meldeten auch Flugradar-Portale, die Flieger per GPS-Daten verfolgen.
Die aserbaidschanische Webseite caliber.az meldet, dass eine Notlandung in nahegelegenen russischen Flughäfen nicht genehmigt worden sei. Andere Medien berichten, das Flugzeug konnte Grozny wegen schlechter Wetterbedingungen nicht ansteuern.
Klar ist: Das Flugzeug drehte ab in Richtung Aktau in Kasachstan, dem nächstgelegenen Flughafen, der zugleich außerhalb der Zone liegt, in der möglicherweise Drohnen bekämpft wurden. Aktau liegt auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres – gegenüber von Aserbaidschan und Tschetschenien. Die Maschine taumelte, verlor an Höhe, gewann wieder an Höhe – die Triebwerke schienen zu funktionieren, die Steuerung dagegen nicht. Die Piloten setzte das Notsignal 7700 ab: Luftnotlage.
Die russische Regierung weist die These vom Abschuss bisher zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagt: „Es wäre falsch, vor den Schlussfolgerungen der Untersuchung Hypothesen aufzustellen. Wir werden dies natürlich nicht tun, und niemand sollte dies tun.“ Der Vorsitzende des Senats in Kasachstan, Maulen Aschimbajew, wies dies als „Hype“ und nicht belegte Behauptung zurück.
Die israelische Fluggesellschaft El Al hat am Donnerstagabend alle Flugverbindungen zwischen Tel Aviv und Moskau für diese Woche eingestellt. Grund seien die „Entwicklungen im russischen Luftraum“, teilte die Airline mit. Sie werde kommende Woche neu beurteilen und entscheiden, ob die Flüge wieder aufgenommen würden.
Szenario 3: Gezielter Abschuss durch eine russische Flugabwehrrakete
Auf Videos vom Absturzort sind Löcher in der Außenhaut des Fliegers zu sehen. Manche deuten sie als Einschusslöcher, einige von ihnen mehrere Zentimeter dick. Möglicherweise sind die Schäden auch beim Absturz entstanden. Sehr unwahrscheinlich ist, dass das Flugzeug direkt mit einer Rakete abgeschossen wurde, wie im Juli 2014 der Flug MH-17 in der Ostukraine. Die Maschine wäre aufgrund der Detonation sofort abgestürzt. Ein Geschoss, das in nächster Nähe explodierte, ist möglich. Denkbar ist auch, dass die Maschine in den Trümmerregen nach einem Drohnenabschuss geraten ist. Das würde die Beschädigungen erklären. Und die Probleme mit der Steuerung.
Unterdessen sicherten die Behörden in Kasachstan eine transparente Untersuchung zu. „Alle Informationen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“, sagte Maulen Aschimbajew. In Aserbaidschan hat nach dem Absturz am Donnerstag ein Trauertag begonnen.
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