Melitopol/Wien. Russische Indoktrination und Gewalt prägen den Alltag im besetzten Melitopol. Ein ukrainischer Widerständler gibt geheime Einblicke.

Wie eine blutige Walze rollt die Front langsam hin und her in der Ostukraine – Kilometer für Kilometer, verwandelt Dörfer und Städte in Trümmer. Dahinter aber, hinter Minenfeldern und Grabensystemen, hat sich ein Besatzungsregime etabliert, in dem Millionen Ukrainer festsitzen. Ein System, das systematisch agiert – und auf große Widerstände stößt.

Wie in Melitopol, einer ehemals 150.000 Einwohner großen Stadt im Südosten der Ukraine. Knapp 1000 Tage dauert die Besatzung schon an, genauso so lange wie der Krieg. Groß waren die Hoffnungen auf eine rasche Befreiung im Herbst 2022, und auf die Sommeroffensive 2023.

Viel hat sich seit den ersten Tagen dieses Krieges hier geändert. Vor allem für Aktivisten wie jenen der „Gelben Schleifen“, einer zivilen Widerstandsgruppe, die seit dem Frühjahr 2022 aktiv ist. Ihre Mitglieder binden gelbe Schleifen an Zäune, um Laternenpfähle, sprayen Hauswände gelb und blau an oder hinterlegen ukrainische Gedichte in Parks. Hinterher teilen sie Fotos ihrer Aktionen in sozialen Medien. Das wirkt vielleicht bestenfalls symbolisch. Aber mehr ist kaum möglich unter dem von Russland etablierten Terrorregime in der Ukraine, in dem Menschen spurlos verschwinden, gefoltert, verschleppt und ohne Anklage festgehalten werden.

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    In besetzten Gebieten sind vor allem Schulen betroffen

    „Es wird von Tag zu Tag schwieriger und riskanter“, sagt ein lokaler Koordinator der „Gelben Schleifen“. Dabei stünden sie noch nicht einmal mit ukrainischen Partisanen in Kontakt. Ihnen gehe es ausdrücklich um zivilen Widerstand. Aber schon das ist lebensgefährlich. Russland betreibt in den besetzten Gebieten allgemeine Indoktrination, gezielte Jugendarbeit in Camps samt russisch-patriotischer Erziehung sowie Militarisierung. Das Blockwartsystem und die Siedlungspolitik wirken. Genau das würde der Ukraine blühen, würde sie sich ergeben, so der Aktivist. Es wimmle vor FSBlern, also Angehörigen des russischen Geheimdienstes. Sie sollen jegliche pro-ukrainische Stimmung unterdrücken und Angst verbreiten. Ihr Hauptziel ist die Russifizierung auf allen Ebenen.

    Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Kharkiv Human Rights Protection Group“ (KHPG) zielt die russische Kampagne ab auf die „Auslöschung der ukrainischen Sprache sowie aller Aspekte ukrainischer Identität“. Die Besatzer machen Jagd auf Angehörige ukrainischer Soldaten, Aktivisten oder sonstige exponierte Personen. Sie haben Orten wieder ihre sowjetischen Namen gegeben, Museen umgebaut und den Gebrauch der ukrainischen Sprache in der Öffentlichkeit sanktioniert.

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    Das öffentliche Leben in Melitopol ist sehr russisch geprägt. © IMAGO/SNA | IMAGO stock

    Vor allem Schulen sind betroffen. Es gilt ein neuer russisch-patriotischer Lehrplan. Und die von Russland in die Ukraine entsandten Lehrer sollen, so wird berichtet, Schüler bestrafen, wenn diese Ukrainisch sprechen, auch mit körperlicher Gewalt. Kinder jedoch nicht in diese Schulen zu schicken, ist nur unter großen Schwierigkeiten möglich. Es gibt zwar Heimunterricht und ein ukrainisches Online-Lehrangebot, aber niemand dürfe das auch nur erahnen, erzählt der Aktivist.

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    Es sei praktisch unmöglich geworden, sich ohne russischen Pass zu bewegen. Es gibt keine Sozialleistungen, keine Arbeitsverträge, keine Medizin, keine Tickets für öffentlichen Verkehr. Die Situation werde von Tag zu Tag schlimmer. Wer versuche, mit einem ukrainischen Pass einen Kontrollpunkt zu passieren, könne sicher sein, befragt zu werden. Inklusive späterer „Hausbesuche“ – mit unabsehbaren Folgen. Folter, Verschleppungen ohne jegliche rechtliche Grundlage, Morde sind dokumentiert. Die OSZE spricht in einem Bericht von „Tausenden“ solcher Fälle.

    „Wir wissen von Vergewaltigung, Schlägen und Tötungen“

    Männer können durch den russischen Pass zur Armee eingezogen werden. Ein ukrainischer Pass hingegen werde als „Form des Widerstandes“ betrachtet. „Es gibt immer weniger Kanäle zur Flucht“, so der Aktivist der „Gelben Schleifen“. „Die Russen fühlen sich hier immer mehr wie zu Hause.“

    Flag Your Neighbourhood mass event in Melitopol, Russia
    Kinder schwenken während einer Parade russische Flaggen. Dieses Foto stammt von der russischen Staatsagentur TASS. © picture alliance/dpa/TASS | Alexander Polegenko

    Besatzungen folgen einer gewissen Dramaturgie. Wenn die russische Armee ein Dorf einnimmt, droht allen verbliebenen Bewohnern, über Monate in Keller gesperrt und verhört zu werden. So geschehen in Yahidne, in der Region Chernihiv. Laut Berichten aus anderen Dörfern sollen Zurückgebliebene ohne Verwandte auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet deportiert worden sein. Die Restlichen sofort erschossen.

    Mittlerweile, erzählt der Mann aus Melitopol, habe sich der Fokus der Besatzer von der reinen Bestrafung hin zu einer Informationskriegsführung verschoben, hin zu einem Polizeistaat, der sehr systematisch vorgeht. Ein Polizeistaat, in dem es eine heikle Abwägungssache ist, welche Telegram-Kanäle man abonniert hat, da Telefone oft an Kontrollposten oft durchsucht werden. Keine ukrainischen Kanäle können verdächtig sein, zu viele aber auch. Oder wenn man zu vielen russischen Propaganda-Kanälen folgt.

    Russische Besatzung ist Ungewissheit. Und das ist offene Gewalt im Verdeckten. Es gibt Themen, die in den russischen Propaganda-Kanälen eben keine Erwähnung finden – von denen aber alle irgendwie wissen: Folter, Verschleppungen und Vergewaltigungen „Wir wissen von Vergewaltigung, Schlägen und Tötungen, aber es ist schwer, diese Informationen öffentlich zu bestätigen“, sagt er. Denn: „Die Menschen haben Angst, darüber zu sprechen, sie haben Angst, dass sie bestraft werden, wenn sie es erzählen.“