Düsseldorf. Nach dem Solingen-Anschlag sollte im Umgang mit Dublin-Flüchtlingen alles anders werden. Nun gibt es einen bemerkenswerten Brandbrief.

Gut zwei Monate nach dem Messer-Anschlag von Solingen, für den der ausreisepflichtige Syrer Issa al H. verantwortlich gemacht wird, wachsen die Zweifel an schnellen Verbesserungen in der nordrhein-westfälischen Abschiebepraxis.

Wie erst jetzt bekannt wird, haben die fünf Regierungspräsidenten aus Arnsberg, Detmold, Düsseldorf, Köln und Münster bereits am 20. September in einem gemeinsamen Schreiben an Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) deren Reaktion auf die gescheiterte Rückführung von Issa al H. nach Bulgarien im Sommer 2023 zerpflückt. Das elfseitige Schreiben, das als ungewöhnlicher Schritt der nachgeordneten Behördenleitungen gilt, liegt unserer Redaktion vor.

Konkret melden die Bezirksregierungen, die in NRW die staatliche Aufsicht über alle Ausländerbehörden führen, Zweifel an Pauls Maßnahmen zur Steigerung der Erfolgsquote bei sogenannten Dublin-Überstellungen an. Unter „Dublin-Flüchtlingen“ versteht man Asylbewerber, die über einen anderen EU-Staat nach Deutschland eingereist sind und eigentlich dort ihr Anerkennungsverfahren hätten durchlaufen müssen.

Solingen-Attentäter: Abschiebeflug nach Bulgarien stand 2023 schon bereit

Der Solingen-Attentäter Issa al H. sollte im Sommer 2023 nach Bulgarien ausgeflogen werden. Obwohl die Rückführung mit der Regierung in Sofia konkret für den 5. Juni organisiert war, scheiterte der nächtliche Transfer aus dem Landesflüchtlingsheim Paderborn zur wartenden Maschine am Flughafen in Düsseldorf. Issa al H. war angeblich für die NRW-Behörden nicht auffindbar, saß aber wenige Stunden später wieder beim Mittagessen in der Landeseinrichtung.

Da kein weiterer Rückführungsversuch unternommen wurde, verstrich die Überstellungsfrist nach Bulgarien. Issa al H. erhielt wenige Monate später in Deutschland einen Duldungsstatus, wurde nach Solingen zugewiesen und kassierte weiterhin Asylbewerberleistungen. Am 23. August ermordete er aus mutmaßlich islamistischen Motiven beim Solinger Stadtfest drei Menschen und verletzte mehrere weitere lebensbedrohlich.

In einem Erlass vom 30. August hatte die politisch schwer angeschlagene Ministerin Paul die Bezirksregierungen aufgefordert, „die bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in Bezug auf Dublin-Überstellungen künftig konsequenter und effizienter zu nutzen“. Die schwarz-grüne Landesregierung präsentierte diesen Paul-Erlass sogar Anfang September im Rahmen ihres „umfassendsten Sicherheitspakets der Landesgeschichte“ als schnelle Lehre aus dem Solingen-Anschlag.

Regierungspräsidenten: Lückenlose Ein- und Auslasskontrolle im Flüchtlingsheim unmöglich

Paul forderte von den landesweit fünf Zentralen Ausländerbehörden in Bielefeld, Coesfeld, Essen, Köln und Unna, dass künftig die Anwesenheit von ausreisepflichtigen oder zur Festnahme ausgeschriebenen Asylbewerbern in den Landeseinrichtungen systematischer erfasst werden müsse. Es sei stets zu prüfen, ob ein zweiter Überstellungsversuch von Dublin-Fällen unternommen werden kann.

Wie aus der bemerkenswerten Replik der Regierungspräsidenten nun hervorgeht, wollen diese ihren Ausländerbehörden nicht die Verantwortung für gescheiterte Rückführungen zuschieben lassen. In Flüchtlingsunterkünften seien mehrere Hundert Bewohner untergebracht, die sich zwar beim Betreten und Verlassen mit einer Chipkarte einbuchen müssten. Asylbewerber dürften sich jedoch frei bewegen und könnten leicht die Umfriedung jeder weitläufigen Anlage unbemerkt überwinden. „So muss festgehalten werden, dass eine lückenlose Ein- und Auslasskontrolle durch die Sicherheitsdienstleister nicht gewährleistet werden kann“, so die Regierungspräsidenten.

Seit Wochen politisch angezählt: Nordrhein-Westfalens Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne).
Seit Wochen politisch angezählt: Nordrhein-Westfalens Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne). © dpa | Christoph Reichwein

Selbst das Buchungssystem „DiAS“ sei „kein, die relevanten Prozessabläufe der Flüchtlingsunterbringung funktional abbildendes Fachverfahren, aus dem sich die Informationen zur Erfüllung der bestehenden Kontrollnotenwendigkeiten gewinnen lassen“, heißt es in dem Schreiben. Brisant: Ministerin Paul hatte es als Versäumnis der Unterkunftsleitung in Paderborn bezeichnet, dass der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld keine Meldung gemacht wurde, dass Issa al H. nur Stunden nach der gescheiterten Abschiebung wieder aufgetaucht war. Die Zentralen Ausländerbehörden bekämen nun Zugriff auf das Zugangssystem „DiAS“, damit sie selbst schauen könnten, ob eine gesuchte Person in einer Flüchtlingseinrichtung anzutreffen sei oder nicht. Damit könne man Maßnahmen zielgenauer planen, „damit man eben nicht dahinfährt und die Person nicht antrifft“, so Paul.

Die Regierungspräsidenten weisen derweil auf Schnittstellenprobleme mit örtlichen Zugangssystemen der Landesflüchtlingseinrichtungen hin, monieren einen Formularkrieg mit pdf-Dokumenten und betonen, dass teilweise die Einrichtungsleitungen gar nicht wissen könnten, welche Bewohner ausreisepflichtig sind und wer genau sich einer Abschiebung entzogen hat. Nicht jeder Flüchtling sei den Mitarbeitern bekannt. „Insofern kann auch nicht nachvollzogen werden“, formulieren die Regierungspräsidenten klar, „wann ein Bewohner nach einer kurzfristigen Abwesenheit wieder in der Einrichtung ‚gesichtet‘ worden ist.“