Berlin/Nürnberg. Gewaltbereite Islamisten sitzen hinter Gittern. Fachleute sprechen mit ihnen. Ziel: Abkehr von der Ideologie. Kann das gelingen?

Bei einem Mann, so erzählt es Laura Gärtner, habe es Jahre gedauert. Der verurteilte Islamist beachtet die Beraterin nicht, will mit ihr nichts zu tun haben, auch weil sie eine Frau ist. So läuft das immer wieder, bei jedem Treffen in der Haftanstalt. Die Zeit vergeht, auch die gemeinsamen Gespräche. Aber der Inhaftierte öffnet sich nicht, im Gegenteil: Er demonstriert Härte, baut um seine Emotionen eine Mauer auf, redet nur mit dem männlichen Berater. Bis ihn eines Tages die Nachricht vom Tod eines Familienangehörigen erreicht – und der Mann keine Genehmigung von der Gefängnisleitung bekommt, an der Beerdigung teilzunehmen. Das ändert alles.

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    Gärtner ist Sozialarbeiterin in Berlin. Sie arbeitet für das Violence Prevention Network, eine renommierte Organisation, die Menschen aus ihrer radikalen Wahnwelt holt. Gärtner ist Deradikalisiererin. Sie leiste Distanzierungsarbeit, wie sie sagt. Gärtner fährt in Berliner Gefängnisse, meist rufen vorher besorgte Justizbedienstete an. Sie muss herausfinden, ob ein Gefangener radikal ist. Und wenn er überzeugter Islamist ist, dann muss Gärtner ihm irgendwie einen Weg aus der Ideologie weisen. Nicht selten dauert das Jahre.

    Gärtner ist eine Art Radar für Extremisten hinter Gittern. Und das ist gar nicht so einfach: „Wenn sich jemand einen Bart wachsen lässt in Haft, ist das allein kein Grund, dass er radikaler Islamist ist“, sagt Gärtner.

    Dutzende Islamisten sitzen in deutschen Gefängnissen

    Schlägt ein Islamist wie in Solingen zu, sieht die Öffentlichkeit die schrecklichen Bilder der Tat. Die Polizei ermittelt, die Politik debattiert. Doch irgendwann verschwinden die Schlagzeilen – und der Islamist landet, sofern er noch lebt, in Haft. Und die Öffentlichkeit schaut kaum noch hin.

    Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech
    Blick ins Innere der Haftanstalt JVA Landsberg in Bayern. © picture alliance / ABBfoto | picture allance

    Dutzende gewaltbereite Islamisten sitzen aktuell hinter Gittern in Deutschland. Ende August zählt das nordrhein-westfälische Justizministerium 40 Gefangene, die als islamistische „Gefährder“ eingestuft sind. Fünf Gefangene sind in Hessen derzeit inhaftiert, weil sie als islamistische Terroristen verurteilt sind. In Hamburg sitzen sechs Islamisten in Haft, in Berlin 14, und in Bayern knapp 30. Das ergibt eine Umfrage unserer Redaktion.

    Manche der Extremisten sind bereits verurteilt, andere sitzen in Untersuchungshaft. Nicht alle der Islamisten sind auch wegen extremistischer oder terroristischer Straftaten verurteilt, viele auch wegen anderer Delikte, etwa schwere Körperverletzung oder Drogenkriminalität.

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    Aufwendige Maßnahmen sollen zur Prävention beitragen

    Die Zahl erscheint gering, angesichts von mehr als 40.000 Strafgefangenen bundesweit. Doch wie gefährlich jeder Einzelfall sein kann, müssen die Sicherheitsbehörden im Oktober 2020 bitter lernen. Ein junger Islamist sticht mit einem Messer in der Dresdner Innenstadt auf zwei Spaziergänger ein. Einer von ihnen stirbt. Der Täter war gerade erst wenige Tage aus dem Jugendstrafvollzug entlassen.

    Es ist tatsächlich einer der wenigen Gewaltfälle früherer inhaftierter Islamisten. Auch weil die Justizbehörden reagiert haben, aufwendig Maßnahmen gegen Radikale hinter Gittern hochfahren. Die Projekte heißen „KOgEX Hessen 2.0 – Kompetenz gegen Extremismus in Justizvollzug und Bewährungshilfe“ oder „Projekt Fokus ISLEX – Mobile Maßnahmen zur Prävention und Deradikalisierung im niedersächsischen Strafvollzug und in der Bewährungshilfe“, andere nur: API, Aussteigerprogramm Islamismus.

    Dahinter steht eine Struktur an Justizvollzugsbeamten, Sozialarbeiterinnen, Psychologen, Islamwissenschaftlern und Pädagoginnen. Sie alle arbeiten daran, dass deutsche Gefängnisse kein Hort für Dschihadisten werden.

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    „Die Haft ist ein harter Ort, man muss hart sein, um die Zeit dort durchzustehen“

    Eine von ihnen ist Laura Gärtner, die eigentlich anders heißt. Sie möchte sich und ihre Arbeit schützen, auch weil sich in der Szene schnell rumspreche, wenn sie sich offen in Medien äußere. Das gefährde das Vertrauen ihrer Klienten, sagt Gärtner. Genau das ist die Schlüsselwährung, wenn sie Menschen aus der Radikalität holen will. Ohne Vertrauen geht nichts, Gärtner und ihr Team müssen es sich mühsam erarbeiten. So wie bei dem jungen Islamisten, der erst über seine Gefühle spricht, als ein naher Verwandter stirbt. Die Trauer ist wie ein Türöffner.

    „Die Haft ist ein harter Ort, man muss hart sein, um die Zeit dort durchzustehen“, sagt Gärtner. „Niemand will sich verletzlich zeigen.“ Wer das Leben in Freunde und Feinde einteilt, lässt keinen Raum für Zweifel. Schuld sind immer die anderen. Und der Hass ist auch ein Panzer. Es ist dieser Panzer, der für Menschen wie Gärtner schwer zu knacken ist.

    Prozess gegen mutmaßlichen Topterroristen
    Brüssel: Die Gerichtszeichnung zeigt die beiden mutmaßlichen islamistischen Terroristen Salah Abdeslam (2.v.r) und Soufien Ayari (2.v.l). Der Franzose Abdeslam und der Tunesier Ayari gehören zur Terrorzelle, die die schweren Anschläge in Paris im November 2015 und in Brüssel im März 2016 verübte. © picture alliance / Petra Urban/AP/dpa | Petra Urban

    Vertrauen aufzubauen ist der Grundstein

    Jedenfalls funktioniere es nicht, wenn sie gleich beim ersten Kennenlernen mit dem Gefangenen über dessen Reise in den Dschihad oder dessen Gewalttaten reden wolle. Am Anfang versucht Gärtner das zu machen, was sie „Biografiearbeit“ nennt. „Wir sprechen darüber, wie die Person aufgewachsen ist, wie das Verhältnis zu ihren Eltern oder Geschwistern war, wie sie die Schule und Jugend erlebt hat.“ Gärtner erstellt ein „Genogramm“, einen Stammbaum des Klienten. Ist Vertrauen da, beginnen die Menschen zu reden, über die Eltern, über den Vater, über Lebenskrisen und Brüche, über Mobbing in der Jugend oder Gewalt in der Erziehung.

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    Ähnlich wie Gärtner berichten es Ahmad Mansour und Gürcan Kökgiran in einem Aufsatz über ihre Arbeit in einem Präventionsprojekt für den Justizvollzug. Ähnlich erzählt es Gülden Hennemann. Sie ist Mitte 40 und koordiniert die Arbeit mit Extremisten in den 36 bayerischen Gefängnissen. Hennemann hat lange für den Verfassungsschutz gearbeitet, ist Islamwissenschaftlerin und kommt aus einer türkischen Einwandererfamilie.

    Wenn eine Justizvollzugsanstalt bei Hennemann klingelt und Alarm schlägt, fährt sie los. Als erstes muss sie herausfinden, ob ein Mensch tatsächlich radikal ist. „Ich habe kein Profil im Kopf, keine Checkliste, die ich abhake.“ Was auffallen muss, ist eine Verhaltensänderung einer Person, die ins Extreme geht. Ein Mensch, der sich distanziert, andere Gefangene verurteilt, weil sie keine „wahren Muslime“ seien. Auch Äußerungen fallen Beamten in Haft auf, Sympathie für einen Attentäter oder den „Islamischen Staat“.

    Gülden Hennemann
    Kümmert sich um Distanzierungsarbeit in bayerischen Gefängnissen: Politologin Gülden Hennemann. © privat | Privat

    Missionierung im Gefängnis ist eine große Gefahr

    Gefahr droht vor allem, wenn ein Gefangener andere Inhaftierte missioniert – und in die radikale Ideologie lockt. Frankreich und Belgien hatten früher schon mit einer großen Anzahl an Islamisten in Haft zu kämpfen, und machten gravierende Fehler. Sie sperrten alle Extremisten in einen Gefängnisflur, ein Trakt wurde so zum Radikalisierungsraum. Chérif Kouachi und Amedy Coulibaly, zwei Attentäter von Paris, kannten sich aus der Zeit in Haft. Auch die Brüder Ibrahim und Khalid el Bakraoui, die 2016 das Sprengstoff-Attentat in Brüssel verübten, saßen vorher lange Zeit ein. 

    Manchmal höre Gärtner Sprüche von Bekannten. Sie fragten, warum sie mit Tätern arbeite. Mit Menschen, die schwere Gewalttaten verübt, andere Menschen verletzt oder getötet haben. Was das überhaupt bringen soll. Gärtner ist selbst Muslimin. Sie sagt, sie sehe nicht nur den Täter, sondern auch den Mensch mit seiner Geschichte. Aber bequem wird es für die Islamisten nicht.

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    „Wir wollen wissen und verstehen, wo ein Mensch ideologisch steht“

    Im Laufe der Arbeit mit den Gefangenen redet sie auch über die Tat, über die Gewalt im Namen der Ideologie. „Es geht nicht darum, Menschen davon freizusprechen. Im Gegenteil: Wir gehen die Tat Sekunde für Sekunde gemeinsam durch, was war davor, warum hat die Person die Kontrolle verloren, in welcher Situation und wie habe ich mich gefühlt – all das steht im Fokus.“ All das ist Teil des Weges aus der Radikalität.

    „Ich bin keine Polizistin und auch keine Therapeutin“, sagt Expertin Hennemann. Die Gespräche mit den verdächtigen Personen seien keine Verhöre. „Wir wollen wissen und verstehen, wo ein Mensch ideologisch steht.“ Das hebt auch Gärtner hervor: „Es ist wichtig, die Personen nicht in eine Ecke zu drängen, sie zu stigmatisieren.“ Erwachsene Menschen lassen sich nicht mit erhobenem Zeigefinger resozialisieren.

    Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech
    Kampf gegen Islamismus: Anstalten können Hafträume durchsuchen, Briefe kontrollieren. Und Einzelhaft anordnen. © picture alliance / ABBfoto | picture allance

    Rollenspiele und Gruppengespräche

    Immer wieder nutzen Fachleute wie Hennemann und Gärtner dagegen Rollenspiele, etwa in denen Inhaftierte sich einmal als Sohn, dann auch als Vater spielen. In Diskussionen geht es um fehlende Vaterfiguren, etwa nach einer Trennung der Eltern. Aber dann auch über Themen wie Homosexualität und Antisemitismus. „Wir wollen kritisches Denken bei den Inhaftierten verankern.“ Die Fähigkeit, die islamistische Ideologie zu hinterfragen. Der Islamismus-Experte Ahmad Mansour beschreibt seine Arbeit so: Er sei „Gedankenpflanzer im Garten der Mündigkeit und Aufklärung“.

    Doch nicht nur Rollenspiele und Gruppengespräche sind die Instrumente gegen Radikale hinter Gittern. Der Staat überwacht manche von ihnen intensiv, beobachtet Kontakte zu Mitgefangenen. Anstalten können Hafträume durchsuchen, Briefe kontrollieren. Und Einzelhaft anordnen. „Am Ende der Kette steht die Verlegung in eine andere Haftanstalt“, sagt Hennemann.

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    Mannheim, Solingen, München – Tatorte, die zeigen: Der Islamismus ist zurück

    Die Expertin warnt: „Wir neigen in Deutschland dazu, Terror zu psychologisieren. Aber nicht jeder Terrorist ist so, weil er eine schlechte Kindheit hatte oder weil er psychisch krank ist.“ Hennemann sagt: „Wir treten den Islamisten oft noch immer naiv gegenüber.“

    Mannheim, Solingen, München – Tatorte, die zeigen: Seit diesem Jahr ist der Islamismus so stark wie lange nicht mehr in Deutschland. Polizei und Verfassungsschutz sind alarmiert. Es gibt Razzien, Festnahmen, Prozesse. Die Täter landen bei Menschen wie Hennemann und Gärtner.

    Irgendwann aber haben sie ihre Strafe verbüßt und kommen frei. „Oft denke ich, die entlassenen Islamisten konnten wir gut vorbereiten und aus ihrer Wahnwelt rausholen“, sagt Hennemann. „Manche können wir jedoch trotz großer Anstrengungen auch während der Inhaftierung nicht erreichen, da sie zu tief in ihrer Ideologie verhaftet sind.“ Dann, sagt sie, übernehmen ihre alten Kollegen draußen vor den Toren der Haftanstalt, der Verfassungsschutz und die Polizei. Die Sicherheit Deutschlands liegt dann nicht mehr in Hennemanns Hand.

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