Düsseldorf. Der NRW-Landtag bohrte nach, warum der Attentäter noch nicht außer Landes war und ob seine Radikalisierung wirklich unbemerkt blieb.
Ungünstige Zufälle? Die Sondersitzung von Innen- und Integrationsausschuss im Düsseldorfer Landtag zu möglichen Behördenfehlern im Vorfeld des Solingen-Anschlags läuft am Donnerstagmittag schon mehr als zwei Stunden, da versucht NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne), eine ihrer etwas missverständlichen Formulierungen wieder einzufangen.
Paul steht seit Tagen unter Druck, weil der Syrer Issa al H. am vergangenen Freitag auch deshalb drei Menschen beim Solinger Stadtfest ermorden konnte, weil im Sommer 2023 seine fest terminierte Rückführung aus der Landesflüchtlingsunterkunft Paderborn nach Bulgarien scheiterte. Nach der Dublin-Verordnung der EU war Sofia für den 26-Jährigen zuständig und hatte die Übernahme des Asylverfahrens bereits akzeptiert.
Warum der spätere Attentäter dennoch in NRW blieb, kleidete Paul zu Beginn der Ausschusssitzung in den technokratischen Satz: „Wenn man sich den vorliegenden Fall anschaut, dann ist es eine Fallkonstellation, bei der viele ungünstige Zufälle möglicherweise zusammengekommen sein könnten.“ Das klang dann doch arg nach „Pech gehabt“, obgleich es mutmaßlich nicht so gemeint war.
Die Landtagsopposition wirft der grünen Ministerin ohnehin schwaches Krisenmanagement vor, weil sie bis heute nicht persönlich in Solingen war und vier Tage brauchte, bis sie sich zum ersten Mal mit Erklärungen vor eine Kamera wagte. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Kabinettskollege Herbert Reul (CDU) schon zweimal am Tatort, hatte den Einsatzkräften gedankt und gemeinsam mit Ersthelfern geweint.
NRW-Opposition wirft grüner Flüchtlingsministerin tagelanges Abtauchen vor
Paul sei tagelang abgetaucht und schiebe nun nachgeordneten Behörden die Verantwortung zu, wirft ihr SPD-Fraktionsvize Lisa-Marie Kapteinat vor und geht sie persönlich an: „Das ist nicht nur schwach, das ist feige.“
Was die Ministerin mit den „ungünstigen Zufällen“ meint, sind wohl die komplizierten Regeln für Rücküberstellungen innerhalb der EU. Nur 10 bis 15 Prozent klappen wie gewünscht. Der Fall Issa al H. war bis zum islamistisch motivierten Anschlag einer von vielen, weil er nicht als gefährlich galt. So versucht die Ministerin auch, die bizarren Umstände der gescheiterten Abschiebung zu erklären.
Die für die Überstellung nach Bulgarien zuständige Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld (ZAB) versuchte den Syrer in der Nacht zum 5. Juni 2023 um halb drei aus der Landesflüchtlingseinrichtung Paderborn abzuholen und zum Flughafen Düsseldorf zu bringen. Doch er war nicht auf seinem Zimmer. Beim Abendessen wurde er noch vom Anwesenheitsportal registriert, beim Mittagessen ist er auch wieder da. Seine Sozialleistungen kassiert er ebenfalls weiter. Doch bei den NRW-Behörden kommt niemand auf die Idee, einen erneuten Abschiebeversuch zu unternehmen.
Paul erklärt das mit den schwierigen Rückführungen nach Bulgarien. Flüge müssten von Montag bis Donnerstag vormittags per Linie nach Sofia erfolgen und neun Tage im Voraus den bulgarischen Behörden angemeldet werden. Es gebe bundesweit nur zehn Flugzeugplätze pro Tag. Abschiebungen per Bus seien nicht möglich. Der Subtext: Die Zentrale Ausländerbehörde in Bielefeld musste davon ausgehen, dass es ohnehin nichts mehr wird mit der Rückführung bis zum 20. August 2023. An diesem Tag endete die Rückführungsfrist nach Bulgarien und Deutschland wurde wieder für Issa al H. zuständig.
Warum unternahmen die NRW-Behörden keinen zweiten Abschiebeversuch?
Paul muss sich dennoch bohrende Fragen gefallen lassen: Warum hat man nicht wenigstens versucht, über das „Gemeinsame Zentrum für Rückführungen“ des Bundes ein neues Flugticket zu bekommen? Warum hat man den Syrer nicht als „untergetaucht“ gemeldet, was die Frist zur Rücküberstellung nach Bulgarien um ein Jahr verlängert hätte? Paul verweist darauf, dass der spätere Attentäter damals ja nur ein Fall von vielen gewesen sei. Man könne nicht jeden einzelnen mit Nachdruck verfolgen. „Dann hat man anschließend viele hochpriorisierte Flüge.“
Die Details der gescheiterten Abschiebung wird nun ein Untersuchungsausschuss des Landtags aufarbeiten. Beantragen wollen ihn ungewöhnlicherweise die Regierungsfraktionen von CDU und Grünen. Dahinter steckt vermutlich das Kalkül, sich nicht länger treiben zu lassen, sondern Aufklärungswillen zu signalisieren und den Scheinwerfer der Fehleranalyse stärker Richtung Berlin zu drehen.
Innenminister Reul, der in NRW nicht für Asylfragen zuständig ist, hält sich in seinem Verantwortungsbereich bislang schadlos. Am Donnerstag steuert er ein Detail bei, das seine Polizei in ein noch besseres Licht rückt: Der Solinger Attentäter habe sich gar nicht gestellt, wie immer berichtet werde. Am Samstagabend um 22:47 Uhr hätten ihn vielmehr Streifenbeamte im Nahbereich des Tatortes aufgespürt: „Das Verhalten und auch sein Erscheinungsbild waren den Polizisten verdächtig, deswegen wurde er direkt angesprochen und sofort festgenommen.“
Hatte der Attentäter eine IS-Flagge im Flüchtlingsheim?
In der immer wilderen Asyl- und Sicherheitsdebatte nimmt der bald 72-jährige Kabinettssenior zudem die Rolle des Ruhepols ein. Man dürfe nicht alle Syrer über einen Kamm scheren. „Hetze hilft uns nicht weiter“, warnt Reul. Und ein Messer wie die Tatwaffe sei schon heute bei Volksfesten verboten.
Gerüchte, dass seine Sicherheitsbehörden die Radikalisierung von Issa al H. übersehen haben könnten, weist er energisch zurück. In NRW gebe es 185 islamistische Gefährder, der Solinger Attentäter habe nicht dazugehört. „Kein Mensch hatte ihn auf dem Schirm.“ Die Aktenlage gebe nichts her. Was ist mit Berichten, dass er im Solinger Flüchtlingsheim eine Fahne der Terrororganisation IS aufgehängt habe? „Ich kenne bis zum jetzigen Zeitpunkt keinen Hinweis. Er kann sich zehn Fahnen aufhängen, wenn es keiner meldet, hilft es nichts.“
Die Solinger Moschee, die der Syrer besucht haben soll, sei nicht auf dem Radar des Verfassungsschutzes. Radikalisierungsspuren aus sozialen Netzwerken, die jetzt öffentlich werden, will er nicht überbewertet wissen: Dass es keine behördliche Erkenntnisse gegeben habe, heiße nicht, „dass der nie im Netz etwas Schräges gemacht hat“.