Düsseldorf. Der Solinger Attentäter hätte längst außer Landes sein sollen. Die gescheiterte Abschiebung des Syrers wirft immer mehr Fragen auf.
Nach dem tödlichen Messeranschlag von Solingen rücken Behördenversäumnisse in Nordrhein-Westfalen immer stärker in den Fokus der Aufarbeitung. „Wenn was schiefgelaufen ist, muss das auch klar benannt werden. Das ist völlig klar“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Montag bei einem Besuch am Tatort.
Wüst sprach von Schlupflöchern im Asylsystem, „die ausgenutzt werden von fachkundig beratenen Leuten“ und die es den zuständigen Behörden unglaublich schwer machten, auch nur innerhalb der EU Abschiebungen durchzusetzen.
Der mutmaßliche Attentäter von Solingen, 26-jähriger Asylbewerber aus Syrien, hätte nach bisherigen Erkenntnissen im vergangenen Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Die bulgarischen Behörden waren für sein Asylverfahren zuständig, weil der Mann dort erstmals in die EU eingereist war. Er fuhr jedoch weiter nach Deutschland und stellte in Bielefeld einen Asylantrag. Sofia stimmte einer Rückführung gemäß den EU-Regeln zu. Sogar eine Klage gegen die Abschiebung wurde nach Informationen unserer Redaktion vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Dennoch ist es nie zu einer Überstellung gekommen.
Warum gab es keine weiteren Abschiebeversuche beim Solingen-Attentäter?
Die Zentrale Bielefelder Ausländerbehörde traf den Syrer zum vereinbarten Abholtermin am 3. Juni 2023 in seiner Flüchtlingsunterkunft in Paderborn nicht an und unternahm offenbar keine weiteren Abholversuche. Es wurde nach bisherigen Erkenntnissen aber auch nicht das Untertauchen des späteren Attentäters festgestellt, was die Frist zur Überstellung nach Bulgarien von sechs auf 18 Monate verlängert hätte.
Warum das nicht geschah, blieb am Montag unklar. „Ein Nichtantreffen in der Unterkunft ist nicht mit Untertauchen gleichzusetzen und verlängert nicht die Überstellungsfrist“, stellt eine Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Anfrage unserer Redaktion klar. Vier Tage nach Ablauf der halbjährigen Überstellungsfrist nach Bulgarien soll sich der Syrer wieder bei den deutschen Behörden gemeldet haben und dann einen subsidiären Schutzstatuts erhalten haben, der ihm den legalen Aufenthalt in Solingen ermöglichte.
Das BAMF machte deutlich, dass die operative Zuständigkeit für die Abschiebung maßgeblich in NRW lag: „Der konkrete Vollzug der Überstellung obliegt den Ausländerbehörden und der Bundespolizei, nicht dem BAMF.“ Die Planung des Überstellungstermins liege im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörde. „Am Tag der Überstellung sind die Vollzugbehörden vor Ort anwesend und können auf mögliche Abschiebehindernisse reagieren“, so das Nürnberger Bundesamt.
Solingen: Landtag kommt Donnerstag zur Sondersitzung zusammen
SPD-Oppositionsführer Jochen Ott forderte Aufklärung durch die schwarz-grüne Landesregierung: „Seit dem schrecklichen Attentat hören wir von Ministerpräsident Hendrik Wüst und NRW-Innenminister Herbert Reul immer wieder Ausflüchte, warum andere verantwortlich oder andere zuständig gewesen sein sollen.“ Am Donnerstag treten der Innen- und Integrationsausschuss des Landtags zu einer Sondersitzung zusammen, um das Scheitern der Attentäter-Abschiebung nachzuzeichnen.
Die zuständige NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) erklärte am Montagabend, man durchleuchte aktuell die Hintergründe zum Verfahren und zur gescheiterten Rückführung. „Wenn hier Fehler im Prozess aufgetreten sind – egal bei welcher Behörde und auf welcher Ebene –, müssen wir sie lückenlos aufklären, benennen und die nötigen Maßnahmen einleiten“, so Paul.
Im vergangenen Jahr kam es nur zu 3663 Abschiebungen aus NRW, mehrheitlich nach Georgien, in die Türkei und auf den Westbalkan. Zum Vergleich: Anfang 2024 lebten knapp 190.000 Menschen mit Duldungsstatus in NRW, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht zurückgeführt werden konnten.