Berlin. Die Ukraine stellt im Ausland keine Pässe mehr aus. Das hat verheerende Folgen für junge ukrainische Männer, die in Deutschland leben.
Seit mehr als zwei Jahren schon lebt die Ukrainerin Olga Borzova mit ihrer Familie in Deutschland. Doch die Sorge, ihr ältester Sohn könnte ihr entrissen und an die Front geschickt werden, holte sie auch in Deutschland ein. „Grund dafür ist das neue ukrainische Gesetz zur Mobilmachung“, erklärt die 41-Jährige, die zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in der oberfränkischen Stadt Naila lebt.
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Als die Familie kurz nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ihre Heimatstadt Charkiw verließ, war der älteste Sohn 16 Jahre alt. Vor Kurzem ist der Teenager 18 geworden und gilt somit nach ukrainischem Recht als wehrpflichtig. Denn alle ukrainischen Männer von 18 bis 60 Jahren sind verpflichtet, sich in ein Wehrregister eintragen zu lassen, und müssen einen Grundwehrdienst absolvieren. Zudem dürfen sie die Ukraine ohne triftigen Grund nicht verlassen, weil seit der russischen Invasion das Kriegsrecht gilt – und damit einhergehend die Generalmobilmachung.
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Wehrpflichtige, die sich im Ausland aufhalten – so wie der Sohn von Olga Borzova – werden zwar nicht an die Ukraine ausgeliefert, Kiew übt jedoch immer mehr Druck auf sie aus. Weil die ukrainische Armee dringend neue Soldaten braucht, hat die Regierung in Kiew nun die Regeln für die Mobilisierung verschärft und will auch Wehrpflichtige im Ausland zur Heimkehr drängen.
Etwa 650.000 wehrfähige Ukrainer leben im Ausland, davon mehr als 250.000 in Deutschland
Denn laut ukrainischen Angaben leben derzeit etwa 650.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter im Ausland, davon 256.278 in Deutschland (Stand: März 2024), so das Bundesinnenministerium. Um mehr Druck auf sie auszuüben, stellt die Ukraine seit 24. April keine Reisepässe mehr an im Ausland lebende Männer aus, solange sie im Alter von 18 bis 60 Jahren sind. Konkret besagt die neue Verordnung aus Kiew, dass der Versand von Pässen an diplomatische Vertretungen der Ukraine im Ausland „nicht mehr praktiziert“ werde. Somit können ukrainische Männer im wehrfähigen Alter ihre Reisepässe künftig nur noch in der Ukraine erhalten.
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Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba verteidigte den Beschluss und schreib dazu im Online-Dienst X: „Im Ausland zu leben befreit einen Bürger nicht von den Pflichten gegenüber seinem Heimatland.“ Die Maßnahme steht im Zusammenhang mit dem jüngst verabschiedeten Gesetz zur Verstärkung der Mobilmachung, bei der auch das Einberufungsalter in einen Kriegseinsatz von 27 auf 25 Jahre gesenkt wurde. Das Gesetz soll am 18. Mai in Kraft treten.
Doch was bedeutet dieser Beschluss konkret für ukrainische Männer, die in Deutschland leben? „Mein Sohn hätte für seinen neuen Pass in die Ukraine fahren müssen. Einmal dort angekommen, hätte er das Land aber nicht mehr verlassen dürfen. Irgendwann hätten sie ihn dann an die Front geschickt“, ist sich Olga Borzova sicher. Auch um ihren Mann macht sich die 41-Jährige Sorgen. Zwar durfte er als vierfacher Vater die Ukraine legal verlassen, „doch in ukrainischen Medien kursieren bereits jetzt die Gerüchte, dass diese Regelung aufgehoben wird“, erzählt Olga Borzova.
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Müssen wehrpflichtige Ukrainer künftig bei Passverlängerung an die Front?
Weder ihr Sohn noch ihr Ehemann wollen sich öffentlich in der Zeitung äußern, weil sie befürchten, als Landesverräter tituliert zu werden. Sie verraten jedoch, dass sie auf keinen Fall an die Front wollen und stattdessen dem Land nach dem Krieg beim Wiederaufbau helfen möchten. Auch Olga Borzova will ihre 18- und 16-jährigen Söhne vor der Einberufung in den Krieg schützen: „Auch wenn es egoistisch klingt: Ich will meine Söhne auf keinen Fall an die Front lassen.“
Die Familie Borzov hatte aber Glück. Wenige Tage vor dem Inkrafttreten des Beschlusses konnten sie ihre neuen Pässe aus der ukrainischen Botschaft in Berlin abholen. Ihre alten Dokumente wären in den kommenden Monaten abgelaufen. „Wir haben die Pässe am Samstag abgeholt. Ab Dienstag hat die Botschaft keine Pässe mehr ausgegeben“, berichtet Olga Borzova.
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Weniger Glück hat der 28-jährige Andrij P., der seinen vollen Namen in der Zeitung nicht lesen möchte. Zu groß ist seine Angst davor, als Feigling und Landesverräter beschimpft zu werden. Wenige Wochen vor dem Ausbruch des Krieges ist Andrij P. aus Odessa nach Deutschland geflohen. Zuerst kam er bei seiner Tante in Regensburg unter, die schon seit zwölf Jahren in Deutschland lebt. Mittlerweile lebt er mit seiner Mutter und seiner Schwester, die ebenfalls nach Deutschland kamen, in Bayreuth.
Deutschland: Keine Auswirkungen auf den Schutzstatus von Ukrainern
„Ich will auf keinen Fall in den Krieg ziehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, auf jemanden schießen zu müssen“, macht der 28-jährige Andrij P. unmissverständlich klar. Sein ukrainischer Pass läuft nächstes Jahr aus. Was dann passiert, das weiß Andrij P. nicht und hofft darauf, „dass Deutschland eine Lösung findet, wie ich und die anderen Betroffenen an gültige Papiere herankommen, ohne in die Ukraine reisen zu müssen“.
Das deutsche Innenministerium macht indessen klar, dass die veränderten konsularischen Leistungen für Ukrainer im Ausland keine Auswirkungen auf den Schutzstatus der Flüchtlinge haben. „Der gewährte Schutzstatus wird nicht aufgrund eines abgelaufenen Reisepasses aberkannt“, schreibt Mehmet Ata, Sprecher des Innenministeriums, in einer Stellungnahme an unsere Zeitung.
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Gleichzeitig weist er darauf hin, dass es „für alle Staaten weltweit und auch für Deutschland von großem Interesse ist, dass Ausländer gültige Passdokumente besitzen und damit hinreichend ihre Personalien und Identität nachweisen können“. Liegt ein solches Passdokument aber nicht vor, sollen die Ausländerbehörden im Einzelfall prüfen, ob dieses „in zumutbarer Weise von den zuständigen Behörden des Herkunftsstaates erlangt werden kann“. Als zumutbar gilt es insbesondere, die Wehrpflicht zu erfüllen, „sofern deren Erfüllung nicht aus zwingenden Gründen unzumutbar ist“.