Tschernobyl. Als die Deutschen Tschernobyl besetzten, war Valentina noch ein Kind. Mehr als 80 Jahre später stehen die Russen vor ihrer Tür.
Als Valentina Kukharenko am Morgen des 26. April 1986 zu ihrer Arbeit in der Textilfabrik von Tschernobyl geht, begleitet sie ihr Mann, der gerade seine Nachtschicht als Kranführer hinter sich hat. Sie reden über die Kinder und die Einkäufe, die zu erledigen sind. Er erzählt ihr beiläufig von dem Blitz, den er in der Nacht aus Richtung des 18 Kilometer entfernten Kernkraftwerks gesehen hat, und dass sein Mund urplötzlich so trocken gewesen sei. Eine Freundin begegnet den beiden, sie arbeitet bei der Polizei. „Wie könnt ihr so ruhig sein?“, fragt sie aufgeregt. „Sie haben das Kraftwerk in die Luft gejagt.“ Neun Tage später wird die Kleinstadt evakuiert.
38 Jahre nach dem größten Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomkraft sitzt Valentina Kukharenko in ihrem Wohnzimmer in Tschernobyl. Sie ist jetzt 85 Jahre alt, eine kleine, gebrechliche Frau, mit ihr lebt in dem ihr winziger Hund Dana. Sie ist nicht verbittert, und das ist fast ein Wunder angesichts des Lebens, das hinter ihr liegt. Sie hat die deutsche Besatzung überstanden, das Atomunglück, die russische Besatzung. Und noch immer ist die nukleare Gefahr nicht gebannt. Es herrscht Krieg in der Ukraine. Eine fehlgeleitete Rakete könnte zu einer neuen Katastrophe in Tschernobyl führen.
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Die Fahrt von Kiew bis zur 30-Kilometer-Sperrzone um den Katastrophen-Reaktor dauert etwa zwei Stunden. Volodomyr Verbitskyi hält die ganze Zeit einen kleinen, gelben Geigerzähler in der Hand. Zwischen 0,18 und 0,19 Mikrosievert pro Stunde zeigt das Gerät während der Fahrt an, die natürliche Strahlenbelastung. Kein Problem. Verbitskyi, 63, arbeitet für die staatliche Behörde, die für die Überwachung der Sperrzone verantwortlich ist.
Ukraine: Wer nach Tschernobyl hineinwill, braucht eine Genehmigung
Er stammt aus Prypjat, der Atomstadt, die in den 1970er Jahren für die Beschäftigten des Kraftwerks gebaut wurde. Einmal im Jahr muss er zu einer ärztlichen Untersuchung, weil er vor 38 Jahren als Liquidator gearbeitet hat. Das waren die Männer und Frauen, die direkt nach dem Unglück in der Region eingesetzt waren, um die schlimmsten Folgen der nuklearen Verseuchung zu beseitigen. „Mir geht es gut“, sagt er.
Vor der Sperrzone überprüfen Polizisten an einem Checkpoint jeden, der hineinwill. Wer nicht in der Zone für die Überwachungsbehörde arbeitet, braucht eine Sondergenehmigung. Die Natur wuchert links und rechts der Straße, die in die Zone hineinführt, hinter Bäumen tauchen verlassene Häuser auf. 76 Dörfer und Kleinstädte liegen in der Sperrzone. Fast alle sind seit 38 Jahren leer. Einige Hundert Menschen sind zurückgekehrt, die meisten von ihnen nach Tschernobyl, der Stadt, die dem Unglücks-Kraftwerk ihren Namen gegeben hat. Hier kontrolliert die Überwachungsbehörde in einem Zentrum das Ausmaß der Verstrahlung. Und hier lebt Valentina Kukharenko.
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Die alte Frau zeigt ein Bild. Darauf ist sie zu sehen, wie sie ein Akkordeon spielt, daneben ihr kleiner Hund mit weit geöffnetem Maul. Vor dem russischen Überfall sind manchmal Touristen gekommen, für die hat sie Musik gemacht. „Dana hat gesungen.“ Sie lächelt müde. Jetzt ist nicht die Zeit zu musizieren. „Es ist ja Krieg.“ An den ersten Krieg, den sie erlebt hat, kann sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern, vieles stammt aus den Erzählungen der Eltern. Die Deutschen waren zwischen 1941 und 1943 in Tschernobyl.
Anders als tausende andere Menschen ist Kukharenko nicht erkrankt
Die Nuklear-Katastrophe vier Jahrzehnte später hat Kukharenko noch glasklar in Erinnerung. Das verängstigte Flüstern in der Fabrik in den ersten Tagen nach dem 26. April 1986, die Sowjet-Behörden, die die Menschen beruhigten, die Kolonnen mit den Bussen voller Menschen aus Prypjat, die in Sicherheit gebracht wurden. Prypjat liegt nordwestlich des Kraftwerks. Der Wind trug die radioaktive Wolke damals nach Westen. Tschernobyl liegt südöstlich. Schließlich müssen am 5. Mai 1986 aber auch die 11.000 Einwohner Tschernobyls ihre Heimatstadt verlassen.
Einen Monat nach der Evakuierung erhält Kukharenko ein Telegramm, sie muss mit ihrem Mann zurück nach Tschernobyl. Sie tankt die Fahrzeuge auf, die im Katastrophengebiet für die Aufräumarbeiten eingesetzt werden. Anders als Tausende andere Menschen erkrankt sie nicht. „Vielleicht bin ich einfach an die Radioaktivität gewöhnt“, sinniert sie. In den Jahren danach wird ihr Elternhaus am Fluss abgerissen und vergraben, weil es verstrahlt ist, danach das zweite Haus, in dem sie unterkommt. An das dritte Haus klopfen am 24. Februar 2022 russische Soldaten.
Als die russischen Streitkräfte Tschernobyl übernehmen, graben sich die Soldaten im kontaminierten Erdreich ein, fahren mit ihren schweren Fahrzeugen durch das Gelände und wühlen es auf, zerstören Messstationen, stehlen aus dem Überwachungszentrum Computer. Scharfschützen beziehen Positionen auf den hohen Gebäuden. Kukharenko schreibt auf ihr Fenster: „Der Zweite Weltkrieg hat mir meine Kindheit gestohlen, die Katastrophe meine Heimat, und jetzt wollt ihr mir meinen Lebensabend nehmen.“ Nach einem Monat verlassen die Russen Tschernobyl wieder. Sie ziehen sich kampflos zurück. Es ist ein Glück.
Im Reaktor sollen noch immer Tonnen hochradioaktives Material liegen
Volodomyr Verbitskyis Heimatstadt Prypjat ist noch heute leer, kein Mensch lebt dort. Ein Wald ist dort gewachsen, wo das Stadtzentrum war. In der Schule Nummer 3 liegen Gasmasken auf dem Boden, in den Klassen Bücher, in denen Lenin gepriesen wird. Im Vergnügungspark rosten die Spielgeräte, die gelben Gondeln eines Riesenrads pendeln leicht im Wind. Die Zeit ist hier eingefroren. „Besser nicht auf das Moos treten“, warnt Verbitskyi. Das Moos ist voller radioaktiver Partikel.
Er hält seinen gelben Geigerzähler in Bodennähe. Das Gerät gibt einen lauten, schrillen Warnton von sich, auf dem Display werden über 44 Mikrosievert pro Stunde angezeigt, das 220-fache der natürlichen Hintergrundstrahlung. Der Krieg könnte die nuklearen Geister der Vergangenheit in Tschernobyl wieder wecken. Nicht weit von Prybjat leuchtet eine gewaltige silberne Kuppel in der Sonne. Es ist die Schutzhülle, die vor wenigen Jahren über den porösen Sarkophag aus Beton und Stahl gezogen wurde, mit dem der Katastrophenreaktor nach dem Unglück vor 38 Jahren verschlossen wurde.
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In Reaktor 4 sollen noch immer Tonnen hochradioaktives Material schlummern. Die anderen drei Reaktorblöcke sind schon lange abgeschaltet. Aber neben dem Kraftwerk lagert nuklearer Brennstoff, der gekühlt werden muss. Vitaliy Shykun ist der Leiter der Strahlensicherheits-Abteilung des havarierten Kernkraftwerks. Er warnt eindringlich vor den Folgen eines Raketeneinschlags in der Anlage. „Eine Beschädigung der Kühlsysteme oder der Energieversorgung oder die Nichtdurchführung regelmäßiger Reparatur- und Wartungsarbeiten an den Anlagen könnten sehr ernste Folgen haben“, sagt er.
Auch ein Treffer des Unglücksreaktors könnte gefährlich sein. Die Schutzhülle ist nicht dafür konzipiert, einem Raketeneinschlag standzuhalten. Eine Explosion wie 1986 sei zwar auszuschließen, sagt Shykun. „Aber radioaktiver Staub, Strahlung und Aerosole könnten sich ausdehnen und die Umwelt schädigen. Und wenn es windig ist, würde das alles sehr weit weggeblasen.“
Valentina Kukharenko macht sich darüber keine Gedanken mehr. Sie lebt mehr in der Vergangenheit als in der Zukunft. Tschernobyl will sie nie wieder verlassen. „Ich kann ohne Tschernobyl nicht leben. Ich bin dankbar, dass mich meine Stadt akzeptiert hat. Sonst würde ich heute nicht mehr leben.“
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