Berlin. Den Absturz des Präsidentenflugzeuges bei Smolensk setzen viele Polen mit dem 9/11 gleich, dem Terrorangriff auf die Twin Towers in New York.
So abwegig der Vergleich ist, so verständlich ist der Schmerz, dass Lech Kaczynski und 95 seiner Begleiter ausgerechnet nahe Katyns den Tod fanden, wo tausende polnische Offiziere vor 70 Jahren vom sowjetischen Geheimdienst liquidiert wurden.
Nur kurze Zeit einte die Katastrophe die trauernde Nation über die politischen Gräben hinweg, selbst während des anschließenden Wahlkampfes zwischen Kaczynskis Zwillingsbruder Jaroslaw und Bronislaw Komorowski um das höchste Staatsamt. Auch die zaghafte Annäherung an Russland, die beim gemeinsamen Gedenken der Staatsspitzen auf der Westerplatte begann, schien Früchte zu tragen. Doch dann schürten Polens Rechtskonservative neues Misstrauen, machten absurde Verschwörungsgerüchte um eine russische Verstrickung in die Tragödie die Runde. Es schien, als wollten manche Polen von ihrem Schmerz durch die Gewissheit befreit werden, dass Russland ein Attentat angezettelt habe.
Polnische Wirtschaft wächst
Die Schockwirkung hat nachgelassen, Polen ist wieder gespalten – in katholische Radikale und Laizisten, in Europa-Hasser und Pro-Europäer. Der in der Krakauer Königsburg bestattete Präsident, zu Lebzeiten hoch umstritten, gilt seinen Getreuen als Märtyrer. Allen mythischen Überhöhungen zum Trotz ist jedoch der besonnene (manche meinen: langweilige) Sejm-Marschall Komorowski als Wahlsieger ins Präsidentenpalais gezogen. Der Parteifreund des Premiers Donald Tusk besucht nächste Woche erstmals offiziell Berlin – und ist dort als Pro-Europäer höchst willkommen.
Allerdings ist die pro-europäische Regierung Tusk auch fest entschlossen, ihre materiellen Interessen in Brüssel mit aller Entschiedenheit zu vertreten und den Deutschen notfalls Paroli zu bieten. So gelten in Warschau die anstehenden Verhandlungen über das EU-Budget für die Jahre 2013 bis 2020 als die „wichtigste Schlacht in der EU seit Polens Beitritt vor sechs Jahren“.
„Polnische Wirtschaft“ steht längst nicht mehr für stetes Versagen. Sie wächst gerade um 3,5 Prozent. Das Land ist zwar der größte Empfänger von EU-Zuwendungen, aber kraft eigener Anstrengungen als einziges in Europa ohne größere Einbrüche durch die globale Krise gekommen. Umso besorgter verfolgt man nicht nur in Berlin den bizarren Kulturkampf bei den Nachbarn an der Weichsel um eine verlorene Wahl und die Rolle der einst so mächtigen katholischen Kirche.
Holzkreuz wird verlegt
Ein vier Meter hohes Holzkreuz, nach der Tragödie bei Smolensk als Zeichen spontaner Trauer vor dem Präsidialamt in Warschau errichtet, wurde für Wahlverlierer Kaczynski und die Seinen zum Symbol des Widerstandes gegen eine Regierung, die sich angeblich nur halbherzig um die Aufklärung des Flugzeugabsturzes sorgte. Vor den Fenstern des neuen Präsidenten, eines praktizierenden Katholiken, schalten wütende Rosenkranz betende Kaczynski-Anhänger Komorowski einen „Rotarmisten“, weil er die Verlegung des Holzkreuzes in die nahe St. Anna-Kirche angeregt hatte.
Da kommt es nun auch hin, nach Fürsprache des zunächst ratlosen polnischen Klerus. Ratlos wirkt auch der auf Ausgleich bedachte neue Staatspräsident. Dieser Tage soll Komorowski angesichts der wütenden Kreuzverteidiger seinen Amtssitz durch den Hinterausgang verlassen haben.