Essen. Als nächster Wackelkandidat im Fahrplan der Nato für den Rückzug ihrer Streitmacht aus dem zermürbenden Krieg in Afghanistan gilt Polen.
Zum Wochenbeginn kehrten 1 600 niederländische Soldaten ihrem Einsatzgebiet in Urusgan den Rücken und händigten ihr Kommando amerikanischen und australischen Verbänden aus.
Die Niederländer, deren Engagement am Hindukusch Nato-Generalsekretär Rasmussen einmal als „Maßstab für andere“ rühmte, machen den Anfang. Bis Ende nächsten Jahres werden die Kanadier ihre 2 800 Soldaten heimholen – dann wird auch der Abzug der ersten US-Kampfverbände aus der vordersten Frontlinie begonnen haben. Für die Bundeswehr hat der Außenminister (aber nicht sein zuständiger Kollege aus dem Verteidigungsressort) für Ende 2011 oder Anfang 2012 eine „Reduzierung“ in Aussicht gestellt. Aber ob die „Sicherheitsverantwortung“ bis 2014 wirklich vollständig den Afghanen übergeben wird, das glaube erstmal wer will. „Weder die Prämissen noch der Termin sind realistisch“, zweifelt Henry Kissinger.
Strategiewechsel zeigt kaum Erfolg
Dass der militärische Grundsatz eines Interventionskrieges - „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ - zerbröselt, zeigt allen Beschwichtigungen der Nato zum Trotz das Ausmaß der Misere. Die ISAF-Streitmacht mit Soldaten aus 40 Nationen, die dem geschundenen Afghanistan und seinen Stämmen Frieden und Entwicklung bringen wollte, droht schlimmere Verheerungen und mehr Feinde zurückzulassen als die Völkergemeinschaft mit ihrem durchaus aufrichtigen Ansatz nach dem 11. September 2001 bei der Abwehr des islamistischen Terrors beabsichtigte.
War bereits vor der digitalen Enthüllung jenes Wustes an Geheimdokumenten über das Desaster in Afghanistan klar, dass dieser gescheiterte Krieg nicht zu gewinnen ist, so wird nun offenkundig, dass der von Präsident Obama vor acht Monaten angekündigte Strategiewechsel kaum Erfolge zeitigt. (Die verdruckste Regierung in Berlin suchte wohl deshalb ihr Heil in schönfärberischen Reden, büßte jedoch wegen ihrer Angst vor der Wahrheit über den unpopulären Krieg weiter an Glaubwürdigkeit ein.)
Gesichtsverlust droht
Jetzt ist nicht länger geheim zu halten, dass sich hinter der hoch gelobten US-Strategie vor allem die gezielte Tötung von Aufständischen der Taliban und der El Kaida verbirgt. Kein geringerer als der neue Oberbefehlshaber Petraeus fordert seine 120 000 Soldaten auf: „Schlagt Eure Zähne gemeinsam mit den afghanischen Partnern in ihr Fleisch und lasst nicht mehr los“. Mit dieser markigen Leitlinie des Vier-Sterne-Generals, der vor vier Wochen den geschassten McChrystal abgelöst hat, den „Strategiewechsel“ zu rechtfertigen, ist schon frivol. (Beim „target killing“ sind von einer Liste mit 3 000 Verdächtigen inzwischen 130 Namen gestrichen – 13 wurden offenbar von den Deutschen vermittelt.)
Niemand der für diesen Krieg Verantwortlichen mag zugeben, wie tief dieser Einsatz im Schlamassel steckt. Die wachsende Einsicht, dass der Westen nicht ohne erheblichen Gesichtsverlust den Kriegsschauplatz verlassen kann, wird den Rückzug der Streitkräfte beschleunigen. Afghanistan, ein Staat im klassischen Sinn, entzieht sich einer friedlichen Ordnung. Noch nie ist dieses Gebilde feudaler Regionen und konkurrierender Ethnien von fremden Mächten erobert oder befriedet worden.