Berlin..
Gibt es den typischen Demonstranten rund um den Stuttgarter Bahnhof? Der Sozialwissenschaftler Dieter Rucht hat vor Ort überprüft, wie sich „das Volk“ der Protestbewegung von Stuttgart zusammensetzt.
Wackersdorf, Gorleben, Wyhl, die großen Antiatom-Demos in den 80ern, die Montags-Demos gegen Hartz IV: Wann immer sich in Deutschland der Bürger protestierend auf die Straße bewegt hat seit den 50er- Jahren – Dieter Rucht hat es ausgiebig durchleuchten lassen. Kein Wunder also, dass der Professor vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) neugierig wurde, als sich der Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zum bundesweit beachteten Phänomen aufschaukelte.
Am 18. Oktober fuhr Rucht mit ein paar Kollegen und 1500 Fragebögen zum Stuttgarter Schlossgarten, wo 20 000 Menschen gegen das Projekt protestierten. Über 800 der Empfänger – 54 Prozent – haben den Fragenkatalog beantwortet.
Protest der Gebildeten
Es ergibt sich ein erstaunliches Bild: Es ist eben nicht zuvorderst der bedächtige Schwabe und jahrzehntelange CDU-Wähler, der hier anzutreffen ist. Das Gros sortiert sich politisch in der linken Mitte ein, hat reichlich Demo-Erfahrung gesammelt, viel Vertrauen in die politischen Parteien und den Staat verloren und entsprechend Lust auf mehr direkte Demokratie.
Für viele der Befragten, die meist schon seit mehreren Jahren gegen „Stuttgart 21“ auf der Straße aktiv sind, war der Wasserwerfereinsatz bei der Räumung des Schlossgartens am 30. September jenes Schlüsselerlebnis, das jegliches Vertrauen in die schwarz-gelbe Landesregierung von CDU-Ministerpräsident Mappus zum Einsturz brachte.
Bemerkenswert ist aus Sicht der Forscher Simon Teune und Britta Baumgarten, die an der Studie beteiligt waren, dass der Anteil der 40- bis 64-Jährigen im Demo-Volk der mit Abstand größte ist. Jüngere (unter 25) waren nur mit sieben Prozent vertreten, Rentner (64 plus) mit 14 Prozent. Und: Die Protestgemeinde steht bildungsmäßig alles andere als schlecht da. Über die Hälfte hat einen Uni- oder Fachhochschulabschluss.
Ziviler Ungehorsam
Befragt nach den Motiven, gaben die meisten Demonstranten an, ihnen seien die hohen Kosten des Projekts (derzeit geschätzt: zehn Milliarden Euro) viel zu hoch, ebenso die Profite auf Seiten der Banken und Baukonzerne. Aus Sicht von Professor Rucht spiegelt sich hier eine Skepsis wider, die „Fortschritt und Tradition“ in Gegensatz bringt.
Viele Bürger empfänden das Höher-Schneller- Weiter-Moderner-Mantra der herrschenden Infrastrukturpolitik in Deutschland als kaum mehr zumutbar. „Sie fragen sich, was bringt es mir wirklich, wenn ich künftig 20 Minuten eher mit dem Zug in Ulm bin.“
Perspektivisch dürfte für die Landesregierung in Stuttgart, die sich dem Protest nicht beugen will, eine Erkenntnis der Untersuchung besonders wichtig sein. 90 Prozent der Befragten attestierten sich eine unverändert hohe Neigung, sich auch künftig mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen „die da oben“ zur Wehr zu setzen. Sprich: Sitzblockaden etc. Eine so hohe Konfliktbereitschaft, sagte Rucht, habe man noch nirgends gemessen. Auch darin zeige sich, wie sehr die Entfremdung zwischen Parteipolitikern und der Lebenswelt der Bürger vorangeschritten sei.