Essen/Paderborn. Stellen Sprachroboter das System Schule auf den Kopf? Birgit Eickelmann verweist auf die Chancen und warnt davor, die Technologie zu ignorieren.

Sprachprogramme wie ChatGPT, die mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) auf Anforderung eigenständig komplexe Texte verfassen, sorgen an Schulen für Verunsicherung und Ratlosigkeit. Lehrkräfte befürchten, dass Schülerinnen und Schüler künftig auf einen Sprachroboter setzen, anstatt auf Eigenleistungen.

Bedroht ChatGPT die Grundlagen des Lernens und Prüfens? Oder ist es ein hilfreiches Werkzeug, wenn es pädagogisch sinnvoll eingesetzt wird? Christopher Onkelbach fragte die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Birgit Eickelmann, Expertin für digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung an der Uni Paderborn.

Lehrerverbände befürchten, dass Programme wie ChatGPT „das System Schule auf den Kopf stellen“ könnten. Ist die Sorge berechtigt?

Birgit Eickelmann: Es ist zunächst einmal sehr beeindruckend, was diese KI-Modelle können und wie einfach sie zugänglich sind. Mich erinnert die Diskussion sehr an die Zeit, als Wikipedia erstmals als frei verfügbares Lexikon zur Verfügung stand. Da war man auch besorgt, dass Kinder und Jugendliche nichts mehr lernen. Ich gehe davon aus, dass sich die Welle dieser ersten Aufregung bald legen wird.

Wie werden KI-Sprachmodelle die Lehr- und Prüfungspraxis an Schulen verändern?

Birgirt Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik, Uni Paderborn
Birgirt Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik, Uni Paderborn © Foto: UPB | Unbekannt

Wenn Wissen einfacher zugänglich ist und man nicht nur Inhalte, sondern auch Strukturen auf dem silbernen Tablett serviert bekommt, dann muss dies die schulische Praxis verändern. Wissen allein ist nicht mehr maßgeblich, sondern das Weiterentwickeln von Wissen, das Lernen, das kritische Reflektieren, vor allem auch von digitalen Angeboten. Systeme wie ChatGPT können helfen, dies zu fördern – wenn man sie klug einsetzt.

Ist ChatGPT also mehr als ein Schummel-Tool?

Auch wenn die Programme noch nicht perfekt und fehlerfrei sind, werden wir uns Gedanken machen müssen, ob Aufgaben, die eine KI in Sekunden erledigen kann, noch sinnvolle Aufgaben sind. Hinzu kommt, dass Modelle wie ChatGPT sogenannte regenerative Systeme sind. Sie arbeiten mit dem, was schon da ist und fügen es neu zusammen. Problemlösen, Kreativität und die Generierung neuen Wissens liegen noch bei uns bei Menschen.

Wie sollten sich die Lehrkräfte auf solche Sprachmodelle einstellen?

Zunächst sollten sie das Tool einmal selbst ausprobieren. Das ist denkbar einfach und man bekommt schnell ein Gespür dafür, wo die Möglichkeiten und Grenzen liegen. Wir können das Rad nicht zurückdrehen.

Nutzen Schülerinnen und Schüler bereits solche Programme?

Ja, und es gibt Hinweise darauf, dass vor allem leistungsstarke Schülerinnen und Schüler solche Systeme nutzen. Ziel muss es aber sein, dass Schule dazu anregt, dass alle Kinder und Jugendlichen die neuen Möglichkeiten für sich und ihr Lernen nutzen können. Sie sollten das System nicht unangeleitet und unreflektiert anwenden.

Wie kann man Leistungen künftig bewerten?

Es wird darum gehen, Schülerergebnisse neu einzuordnen. Wurde der Text eigenständig geschrieben oder hat das eine KI gemacht? Doch im Grunde mussten das die Lehrkräfte auch zuvor schon tun, etwa bei Hausaufgaben oder Referaten. Nur dass die Hilfe hier nicht – zumindest bei einigen Schülerinnen und Schülern – von den Eltern oder großen Geschwistern kommt, sondern über das Internet alle einen Zugang dazu haben. Im Grunde leisten solche Modelle, wenn man sie pädagogisch klug einsetzt, einen Beitrag zur Chancengerechtigkeit.

Wo liegen die pädagogischen Gefahren von ChatGPT?

Die Programme erledigen blitzschnell viele Dinge, die zum Standardaufgabenrepertoire von Schule gehören. Zum Beispiel einen Text zusammenzufassen oder die zentralen Argumente aus einem Text rauszusuchen. Aber stimmt auch die Qualität der Ergebnisse? Das muss im Unterricht behandelt werden. Die pädagogische Gefahr sehe ich daher nicht in der Technologie selbst, sondern darin, sie zu ignorieren.

Wo sehen Sie die Chancen solcher Sprachsysteme?

Es gibt unzählige Chancen für das schulische Lernen, und sie setzen derzeit sehr viel Kreativität bei Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schüler frei. Für alle Fächer und auch für fachübergreifende Bereiche, wie die Förderung von digitalen oder kommunikativen Kompetenzen, gibt es schon jetzt viele Beispiele. Da heißt es für Schulen, auf dem Laufenden zu bleiben, sich an den Entwicklungen zu beteiligen und Dinge auszuprobieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Thema am Ende der Sekundarstufe I ist das Schreiben von Bewerbungen und das Üben für Vorstellungsgespräche. ChatGPT kann man zum Beispiel fragen, welches die zehn wichtigsten Fragen sind, auf die man sich bei einem Vorstellungsgespräch vorbereiten sollte. Damit kann Schule dann weiterarbeiten, die Ergebnisse reflektieren und mit Inhalten füllen.

Kann die KI Schüler, die sonst Probleme mit dem Schreiben haben, unterstützen?

Auf jeden Fall. Seit der Einführung von Computern in der Schule wissen wir, dass vor allem Schülerinnen und Schüler, die beim Schreiben Schwierigkeiten haben, sehr von digitalen Möglichkeiten profitieren. Ihnen gelingt es, vorzeigbare Ergebnisse zu erzielen. Und jetzt hat man noch Programme, die Hinweise geben, wie man Sätze überarbeiten kann. Die KI gibt individuell Verbesserungsvorschläge - auch in den Fremdsprachen. Aber auch hier gilt: Die Lehrkräfte müssen die Möglichkeiten kennen und nutzen.

Könnte ChatGPT Lehrkräfte entlasten?

Ja, man kann ChatGPT zum Beispiel in die Unterrichtsplanung einbeziehen. Wenn man dann noch festlegt, welche Kriterien die Unterrichtsreihe erfüllen soll – zum Beispiel eigene Texte schreiben oder Aufgaben nach verschiedenen Lernständen zu generieren – wer sollte etwas dagegen haben? KI kann auch bei der Arbeitsorganisation helfen. Warum eine Einladung für den Elternabend selbst schreiben, wenn ChatGPT vielleicht einen klugen Vorschlag hat? Warum für eine Klassenfahrt oder ein Projekt alles selbst heraussuchen, wenn ChatGPT einen guten Plan fix zusammenstellt?

Was raten Sie Lehrkräften, die jetzt mit dem System konfrontiert werden?

Zunächst einmal, die Innovation mit Neugier, Freude und Interesse zu verfolgen. Selbst auszuprobieren und dann zu überlegen, wie die Lernenden davon profitieren können und wo „alter“ Unterricht an seine Grenzen kommt. Wichtig ist, dass die Lehrkräfte nicht allein gelassen werden, sondern Schulen gemeinsam zukunftsorientierte Konzepte entwickeln. Denn die nächste Innovation kommt bestimmt. Also: immer dranbleiben.

>>>> Zur Person:

Prof. Dr. Birgit Eickelmann(51) ist Professorin für Schulpädagogik an der Uni Paderborn. Sie gilt als eine der profiliertesten Forscherinnen zur Entwicklung des deutschen Schulsystems.

Ein Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit ist die digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie Schulpädagogik unter den Bedingungen des digitalen Wandels. Eickelmann erforschte im Rahmen großer Studien die digitalen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern (ICILS).